Seit 1999 ist das Gender Mainstreaming verbindliches Ziel europäischer Politik. Im Amsterdamer Vertrag verpflichteten sich die EU-Mitgliedsländer dazu, „Die Gleichstellung von Männern und Frauen (…) zu fördern“. Gender Mainstreaming bedeutet aber mehr als nur Frauenförderung, nämlich den Anspruch, gesellschaftlich festgeschriebene Geschlechtszuschreibungen und Einschränkungen zu hinterfragen und aufzuheben. Das hat Thomas Krüger, Vorsitzender der Bundeszentrale für politische Bildung, in seiner Eröffnungsrede zum Kongress „Das flexible Geschlecht Gender, Glück und Krisenzeiten in der globalen Ökonomie“ deutlich gemacht:

Weil Geschlechterkategorien und -asymmetrien strukturellen Charakters sind, sind Geschlechterfragen immer auch politische Fragen, und allen politischen Fragen ist implizit, wenn nicht explizit, immer auch eine Geschlechterdimension eingeschrieben. Deshalb gilt es immer noch, das Prinzip des Gender Mainstreaming als zentrale Dimension aller gesellschaftlichen und politischen Bereiche umzusetzen.

We’ve come a long way, baby, so scheint es zumindest auf den ersten Blick. Rosa Luxemburg und Clara Zetkin hatten noch mit ganz anderen Problemen zu kämpfen, etwa dem Kampf für die Einführung des Frauenwahlrechts. Das besteht nun seit fast 100 Jahren, und seit knapp 40 Jahren dürfen Frauen in Deutschland sogar arbeiten gehen – auch ohne Einverständnis des Ehemannes. Alles in Butter im Deutschland des 21. Jahrhunderts?

Die Reaktionen auf die Rede Krügers zeigen ein ganz anderes Bild. Mehrere katholische Organisationen fordern seine Absetzung – und erhalten dafür in den gängigen Internetforen großen Zuspruch. Das „Forum Deutscher Katholiken“, eine Vereinigung von über 40 Organisationen und Einzelpersonen, hat sich in einem offenen Brief an Bundestagsfraktionen und Kanzlerin gewendet. In der Pressemitteilung des Forums heißt es:

Von Deutschland darf nicht das Unheil ausgehen!
Von Deutschland nahmen die Theorien von Karl Marx ihren Ausgang. Sie haben in vielen Ländern der Welt dazu beigetragen, die Gesellschaft durch Klassenkampf zu zerstören.
Sollen jetzt von Deutschland Theorien ausgehen, die das Wesen des Menschen zerstören, der seiner Natur gemäß unverwechselbar Mann oder Frau ist?

Dass das größte Unheil, das jemals von Deutschland ausging, sicher nicht der Marxismus war – geschenkt. Dass bei der katholischen Kirche die Botschaft von einer Welt jenseits der Zweigeschlechtlichkeit noch nicht angekommen ist – geschenkt. Sich darüber aufzuregen, scheint vergebene Liebesmüh. Noch größeren Anlass zur Aufregung bietet ein anderer Aspekt der ganzen Diskussion: Dass eine zumindest theoretisch längst festgeschriebene Regierungspolitik, nämlich das Eintreten für eine geschlechtergerechte Lebenswelt, zum Anlass genommen wird, „zerstörerische Theorien“ zu wittern und dazu ausgerechnet die rechte Tageszeitung „Junge Freiheit“ zur Kronzeugin zu wählen, gibt dann doch zu denken.

So zitiert das katholische Internetforum kath.net das JF-Interview mit dem Sprecher der Christ-Sozialen Katholiken in der CSU, Thomas Goppel: „Herr Krüger hat eine hohe staatliche Position inne und muss sich deshalb zumindest an das geltende Mäßigungsgebot erinnern lassen.“ Was hatte Krüger eigentlich gesagt?

Um Gerechtigkeit und einen Austausch auf Augenhöhe zu erreichen, kann die eigene Position, die eigene Erfahrung, der eigene Körper und die eigene Sexualität nicht länger zur Norm erklärt werden, von der alle anderen Versionen als minderwertige Abweichungen gelten, die es allenfalls zu tolerieren gilt. Schließlich sind längst alle Formen des Zusammenlebens, von sozialen Beziehungen und Identitäten weitaus vielfältiger als überkommene Binaritäten und Oppositionen beschreiben können.

Um einen „Austausch auf Augenhöhe“ geht es den Katholiken jedoch nicht. Als kritischer Theologe ist der SPD-Politiker einigen christlichen Organisationen schon länger ein Dorn im Auge. Die aktuelle ist nicht die erste Rücktrittsforderung, mit der Krüger konfrontiert ist – seine Empfehlung einer Jugendzeitung, die evangelikale Bewegungen kritisiert hatte, musste er 2008 auf Druck zurückziehen.

Auch der Vorsitzende des Arbeitskreises der Engagierten Katholiken in der Union (AEK), Martin Lohmann, meldet sich in der Jungen Freiheit zu Wort. Bekannt geworden war er unter anderem als Mitbegründer der „Aktion Linkstrend stoppen“, die sich gegen Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, „Homo-Ehe“ und „Multikulti“ ausspricht. Krügers Lob der Abtreibungspolitik und der Kinderbetreuung in der DDR sowie seine Erwähnung von Luxemburg und Zetkin als Vorkämpferinnen der Emanzipation sind auch für Lohmann Anlass, dessen Rücktritt zu fordern. „Wer so einen blühenden Unsinn zu Lebensrechtfragen und der Wertschätzung der Familie von sich gibt, sollte eine mehrjährige Auszeit zum Nachdenken nutzen“, sagte Lohmann der Jungen Freiheit.

Es ist verlockend, diese Stimmen als die letzten Zuckungen einzelner Verwirrter abzutun. Doch sie mehren sich. Mechthild Löhr, Vorsitzende der CDU-Organisation „Christdemokraten für das Leben“ gehört ebenso dazu wie der CSU-Politiker Alois Glück, Vorsitzender des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

Und wenn das Internetforum kreuz.net Gender Mainstreaming als „Codewort zur Umschreibung der Gleichschaltung der Geschlechter“ bezeichnet und Clara Zetkin und Rosa Luxemburg als (männliche?) „totalitäre Feminismus-Ideologen“, wenn das katholische Civitas-Institut die Katholiken auffordert, „bei ihren örtlichen Abgeordneten gegen die Verbreitung dieser antichristliche Ideologie mit Steuermitteln zu protestieren“, kann der Leserin schon ganz anders werden.

Einen Vorteil hat die ganze unsägliche Diskussion. Sie ruft in Erinnerung, dass es trotz Quotenregelungen, Gender Mainstreaming und Verfassungsrang der Gleichberechtigung noch lange nicht weit her ist mit der Verankerung des Themas in den Köpfen. Einziger Lichtblick ist die Hoffnung, dass die Angreifenden sich mit ihrer konservativen Einstellung selbst im Weg stehen. Die Facebook-Gruppe „Für den Rücktritt von Thomas Krüger“ (die den Politiker übrigens mit einem Herz in Regenbogenfarben zeigt) hat erst 245 Mitglieder.

Text: Claire Horst