Vor fast 20 Jahren schrieb der Journalist Simon Reynolds mit seiner Frau ein bahnbrechendes Buch über Gender und Rockmusik. In seinem neuesten Werk widmet er sich jetzt einem „Männerhobby“: der Retromanie.
Interview: Christina Mohr

Foto: Eleanor Stills

Vor siebzehn Jahren haben Sie „The Sex Revolts“ gemeinsam mit Ihrer Frau, der Journalistin Joy Press geschrieben – gab es ein auslösendes Moment für dieses Buch? Die Idee kam uns während einer langen Unterhaltung, die wir im Anschluss an ein Abendessen mit einem bekannten Noise-Musiker hatten. Dieser Musiker erzählte einen echt kranken Witz, um zu testen, wie cool wir waren. Der Witz ging so: „Was ist schlimm daran, eine Sechsjährige zu vergewaltigen? Dass du sie hinterher umbringen musst.“ Wir haben den Test nicht bestanden. Joy und ich fragten uns, warum damals, Anfang/Mitte der 1990er, so viele Bands Songs über das Töten von Frauen im Programm hatten. Ursprünglich wollten wir ein Buch über Frauenfeindlichkeit im Rock schreiben. Aber dann schien es uns interessanter und ambitionierter, alle Gender-Aspekte in der Rockmusik zu untersuchen: angefangen mit eher mystischen und positiven Zuschreibungen in von Männern über oder für Frauen geschriebenen Songs bis zu Selbstdarstellungen weiblicher Künstlerinnen.

Im Buch ist nicht kenntlich gemacht, wer welchen Teil geschrieben hat. Wie war das, als „eine Person“ zu schreiben? Das ist ja auch in Bezug auf Gender-blending sehr interessant… Das war eine tolle Erfahrung für uns. Es gab nie einen Zweifel, dass dieses Buch ein gemeinsames Projekt sein würde, wir haben es zusammen geplant und entwickelt. Wir befürchteten, dass eine so große Aufgabe – mit all dem organisatorischen Kram und den Spannungen, die sich selbstverständlich in der Zusammenarbeit ergeben – sich negativ auf unsere Beziehung auswirken könnte. Aber abgesehen von ein paar kleineren Streitigkeiten über bestimmte KünstlerInnen war es eine prima Zeit für uns. Wir hatten ein Projekt und ein Ziel und wenn ich zurückschaue, wäre mir gar nicht klar, was wir in dieser Zeit sonst gemacht hätten. Wahrscheinlich wären wir öfter ins Kino oder ins Museum gegangen. Es war ein Riesenberg Arbeit und wir hätten ohne weiteres noch mehrere Jahre damit verbringen können, aber dann wurde das Geld knapp und wir mussten uns beeilen! Wir wollten, dass das Buch schnell veröffentlicht wird; das Thema drängte: Mitte der Neunziger erschienen viele wichtige Platten von Musikerinnen: PJ Harvey, all die anderen wütenden Frauen (Hole, etc.) über Riot Grrrlism und Liz Phair. Ich bedaure nur, dass mir die Arbeit an „The Sex Revolts“ keine Zeit für meine damalige neue Passion, die Rave-Szene ließ.

The Sex Revolts“ war und ist für alle feministischen MusikjournalistInnen ein sehr bedeutendes Buch – was hat sich Ihrer Meinung nach in den letzten zwei Jahrzehnten bezüglich der Repräsentation weiblicher Musikerinnen verändert und wie würde eine aktualisierte Version Ihres Buches aussehen? Ganz offensichtlich gibt es heutzutage eine Menge weiblicher Megastars, die berücksichtigt werden müssten – was unser Buch in Hinblick auf die verschiedenen Kategorien wie „Indie“ und „Major“ verändern würde. Ein paar Beispiele: Die Spice Girls und das Mainstreaming der Riot-Grrrl-Idee. Lady Gaga. R’n’B-Divas und HipHopperinnen wie Missy Elliott, Beyoncé, Rihanna, Nicki Minaj. In der Underground- oder Independentszene ist der Aufstieg von Synthesizer-Künstlerinnen wie Maria Minerva, Julia Holter, Laurel Halo, Grimes und LA Vampires zu beobachten. Aber wie auch immer: Viele dieser Künstlerinnen stimmen mit den Archetypen und Strategien überein, wie wir sie in „The Sex Revolts“ beschrieben haben. Lady Gaga zum Beispiel ist die Weiterentwicklung von Madonnas Ansatz, sich ständig neu zu erfinden – Gaga schwelgt in Posen und Künstlichkeit. Die R’n’B-Divas dagegen erneuern den Archetypus der „starken Frau“.

Würde vielleicht noch ein ganz neuer Aspekt hinzu kommen? Das Buch beschäftigt sich nicht mit Gayness im Pop, was natürlich ein großes Versäumnis ist. Aber wir hatten das Gefühl, dass dieses Thema ein eigenes Buch wäre und wir möglicherweise nicht wirklich qualifiziert dafür sind. Aber vielleicht würden wir uns heute da heran trauen – und müssten es auch, denn heutzutage gehören homosexuelle KünstlerInnen zum Mainstream. Beim Rap-Kollektiv Odd Future sind zwar keine Rapperinnen dabei, Odd Future wären aber eine reiche Fundgrube in punkto frauenfeindlicher Lyrics, Homophobie und krankem Humor junger Männer. Andererseits erklärte Odd Future-Mitglied Frank Ocean, dass er schwul ist – offensichtlich ein komplexes Thema.

Warum kommen eigentlich Debbie Harry und Blondie nicht in „The Sex Revolts“ vor? Ich weiß auch nicht mehr, warum uns Debbie Harry „durchgerutscht“ ist, ich mag Blondie auch. Zu Beginn ihrer Karriere galt sie – die toughe New Yorkerin – als Punk, obwohl sie verglichen mit anderen PunkmusikerInnen schon relativ alt war. Sie behielt diesen punkigen Touch, auch als Blondie kommerziell sehr erfolgreich wurden und Debbie jedes Hochglanzmagazin zierte. Ja, ich gebe zu: dass Debbie Harry nicht in „The Sex Revolts“ vorkommt, ist ein großes Versäumnis. Andererseits fehlen im Buch auch noch einige andere wichtige Künstlerinnen, oder wurden zu knapp abgehandelt. Aber wenn man keine dicke Enzyklopädie aus einem Thema machen will, wird so etwas immer passieren.

Bezeichnen Sie sich selbst als Feminist? Ich identifiziere mich definitiv als Feminist. Teilweise schlicht und einfach aus meiner Lebenserfahrung oder wenn ich mir die Probleme vor Augen halte, mit denen sich meine Mutter herumschlagen musste. Ich war aber auch sehr beeindruckt von Germaine Greers „Der weibliche Eunuch“, das ich in sehr jungen Jahren gelesen habe. Danach habe ich mehr feministische Werke gelesen wie z.B. „The Dialectic of Sex“ von der kürzlich verstorbenen Shulamith Firestone. Aber ich wäre wahrscheinlich auch ohne die Inspirationen aus Büchern und dem „echten Leben“ Feminist geworden, und zwar durch die Postpunk-Ära, in der ich aufgewachsen bin. Feminismus war ein großes Thema in der Musik dieser Zeit, es gab Bands wie The Slits, The Raincoats, Delta 5, Au Pairs – und die Musikzeitschriften, vor allem der New Musical Express, schrieben sehr viel über Postpunk und Feminismus. Themen wie Sexismus oder die noch sehr junge Gender-Theorie lagen damals einfach in der Luft.

Ihr aktuelles Buch „Retromania“, das unlängst auf Deutsch erschienen ist, beschäftigt sich damit, dass sich Pop ständig selbst reproduziert, obwohl Pop doch eigentlich das Erneuerung und Jugend verspricht. Welche weiblichen Retro-Phänomene fallen Ihnen ein? „Retromania” untersucht das beschriebene Phänomen nicht auf Gender-Unterschiede, obwohl es so scheint, dass die meisten Plattensammler und obsessiven Pop-Archivare männlich sind. Die meisten Künstler, die ich der Retromanie bezichtige, sind ebenfalls männlich. Aber ich kritisiere auch die Amy Winehouse/Duffy/Adele-„school of soul revival“ – weiße britische Sängerinnen aus den 2000er Jahren wollen so klingen wie schwarze amerikanische Sängerinnen der 1960er. La Roux ist eine Vertreterin des Eighties-Synthiepop-Retromanie. Ich persönlich mag „In It For the Kill“ und generell ihre Aura aus Trotz und Bitterkeit ja sehr gerne, aber musikalisch ist La Roux eine Achtziger-Wiedergängerin.

Welche Künstlerin verdient mindestens so viel Aufmerksamkeit wie Madonna? Es gibt eine Menge bahnbrechender Künstlerinnen, die mehr Aufmerksamkeit verdienen – Kate Bush zum Beispiel kann gar nicht genug bewundert und geliebt werden. Oder Grace Slick. Siouxsie Sioux ist ein bisschen in Vergessenheit geraten, aber sie hatte eine unfassbare Ausstrahlung und war wahnsinnig einflussreich.

Als Musikjournalist arbeiten Sie in einem vorwiegend männlich dominierten Umfeld. Wünschen Sie sich manchmal, dass mehr Frauen über Pop schreiben würden, so wie die legendäre Ellen Willis? Natürlich. Es gibt definitiv noch eine Menge aufzuholen in punkto Geschlechterparität. Ich habe als Redakteur für mehrere Musikmagazine gearbeitet und kann bestätigen, dass sich nicht genügend Frauen für diese Jobs bewerben. Ich würde schätzen, dass auf jede interessierte Frau fünf, sechs oder noch mehr Typen kommen, die Reviews schreiben wollen. Vielleicht sind Männer in dieser Hinsicht etwas aggressiver; es könnte aber auch sein, dass ein sich selbst immer neu erzeugender Prozess dahinter steckt: Frauen entdecken nur wenige andere weibliche Autoren in den Magazinen und denken deshalb, dass dort sowieso kein Platz für sie ist.

Wann und warum haben Sie angefangen, über Musik zu schreiben? Ich wollte immer ein Schriftsteller sein, das Ziel „Musikjournalist“ kam erst viel später. Meine Eltern waren beide Journalisten und ich wuchs in einem sehr belesenen Haushalt auf – als Kind habe ich irrsinnig viel gelesen. Ich wollte immer genau darüber schreiben, was ich gerade las, also Science Fiction oder surreale Komik wie Monty Python. Und als ich anfing, mich für Musik zu interessieren und Popmagazine las, wusste ich, dass ich das auch machen wollte. Ein Bereich, in dem man praktisch über alles schreiben konnte – Politik, Philosophie, was auch immer -, gebündelt und gefiltert durch die Musik. Und man war stilistisch sehr frei.

Würden Sie sich als Nerd bezeichnen? Nicht wirklich. Ich kenne mich nicht gut mit Computern und neuen Technologien aus, ich bevorzuge es, draußen unterwegs zu sein. Aber als Jugendlicher war ich ein echter Bücherwurm, verbrachte viel Zeit in meinem Zimmer und las, schrieb, malte, dachte nach und träumte. Und natürlich hörte ich viel Musik – ich war also schon ganz schön introvertiert und bis zu einem gewissen Grad bin ich das auch heute noch.

 

Simon Reynolds all-time LieblingsmusikerInnen

[vsw id=“wp43OdtAAkM“ source=“youtube“ width=“425″ height=“344″ autoplay=“no“]

Kate Bush: „Weil sie eine Pionierin ist.“
The Slits:  „Wegen ihrer Euphorie und Verrücktheit.“
Poly Styrene of X Ray Spex: „Wegen ihrer Energie und den großartigen, witzigen Lyrics.“
Throwing Muses: „Wegen ihrer Leidenschaftlichkeit und Imaginationskraft.“
Siouxsie Sioux: „Eine großartige Stimme und magnetisierende Performerin.“
The Raincoats: „Für abgeschabten Charme und Pracht.“
Electronic music- und Musique Concrete-Pionierinnen wie Delia Derbyshire, Daphne Oram, Lily Greenham, Laurie Spiegel, Pauline Oliveros, Ruth White, Daria Semegen.
Ach, und noch so viele andere: Grace Slick, Salt N Pepa, Missy Elliott, Delta 5, Aaliyah, Liz Fraser of Cocteau Twins, PJ Harvey, Nicki Minaj, Grace Jones, Mica Levi of Micachu and the Shapes, Kate Pierson and Cindy Wilson in the B-52s, Debbie Harry, Clair Grogan of Altered Images, Annabella Lwin/Bow Wow Wow, Tina Weymouth/Talking Heads und Tom Tom Club?

Die Songs, bei denen Simon Reynolds weinen muss

[vsw id=“QcbmtP_Frd8″ source=“youtube“ width=“425″ height=“344″ autoplay=“no“]

Kraftwek: „Autobahn“
The Smiths: „There Is A Light That Never Goes Out“