Das Indie-Filmwunder im Wettbewerb: „Before Midnight“

Dieser Film ist eine Granate! Streckenweise wird es den Zuschauerinnen in Langzeit-Paarbeziehungen so vorkommen, besonders bei denen mit Familie und beruflichen Ambitionen, als habe jemand das Mikrofon bei ihnen in der Küche aufgestellt und ein „Best-of“ der Paargespräche in den vergangenen Monaten zusammengeschnitten.

Das romantischste, filmische Liebespaar der letzten zwei Jahrzehnte  ist älter geworden. Nachdem Celine (Julie Delpy) und Jesse (Ethan Hawke) sich 1995 in „Before Sunrise“ kennengelernt, verloren und in „Before Sunset“ im Jahre 2004 wieder zusammengekommen sind, verbringen sie nun ihren Familienurlaub ausgerechnet an dem Schauplatz vieler Tragödien: Dem Peloponnes. (Und nicht in der „Mamma-Mia-Region“ wie Regisseur Richard Linklater, der auch den dritten Teil inszeniert hat, auf der Pressekonferenz anmerkte….)

Celine und Jesse haben entzückende, aber ebenso anstrengende Zwillingsmädchen bekommen, die die verzweifelte Mutter des nachts wohl durch den Park schieben musste, damit sie einschlafen konnten, während der als Schriftsteller erfolgreiche Jesse schön auf Lesereise war. In ihrem Beruf – irgendwas mit Windkrafträdern – ist sie bislang noch nicht so richtig weitergekommen, hat aber just ein spannendes Jobangebot in der Tasche. Jesse wiederum vermisst seinen Sohn, der in Chicago aufwächst, zu Beginn des Films bringt er ihn in einer herzzerreißenden und überaus lebensnahen Szene zu seinem Flieger und der 13-Jährige bitte ihn inständig nicht zu seinem Highschool-Klavierkonzert zu kommen. Seine Mutter, Jesses Ex-Frau hasse ihn so, dass sich das auch auf ihn bei seinem Vorspiel übertragen würde…(Später wird Celine Jesses Ex als „eine Fotze mit dem Mutterinstinkt von Medusa“ vergleichen, nur um mal eine kleine Kostprobe dieser messerscharfen Dialogzeilen zu geben…)

Eigentlich würde Jesse gerne mit seiner ganzen Familie nach Chicago ziehen, um seinem Sohn näher zu sein. Celine will aber nicht schon wieder hinten anstehen und sieht sich schon wieder in einem Supermarkt Erdnussbutter einkaufen.

In lange Einstellungen zankt und neckt und neckt und zofft sich fortan unser „Traumpaar“. Wir merken aber bestürzt: Der Ton ist sehr viel böser geworden, zwar bekommen beide immer wieder die Kurve, aber es ist nicht mehr klar, was von ihrer Vertrautheit und ihrem „Füreinander-Bestimmtsein“ geblieben ist, nachdem die Mühlen des Alltags ihr Werk verrichtet haben.

Als sie auch noch von ihren wohlmeinenden Freunden einen romantischen Abend ohne Kinder geschenkt bekommen, eskaliert die Situation und es geht ans Eingemachte: mieser „Küsschen-Küsschen-Titty-Titty-Einlochsex“, Paarmassagengutscheine statt Spontanität und Romantik, die Opferbeitschaft von Frauen, die Unvereinbarkeite von Familie und Beruf und immer wieder: Entfremdung – das sind die Themen über die sich das Paar in seiner „romantischen Suite“ auseinandersetzt. Mal galligböse, mal liebevoll, immer aber klug, witzig und brillant sind die Sätze, die sich die beiden vor Mitternacht an den Kopf schmeißen.

Doch die Vertrautheit von Julie Delpy und Ethan Hawke, die die Drehbücher zu diesen wunderbaren Independent-Filmen geschrieben haben, müsste sich doch in einem vierten Teil wieder verstärkt auf ihre filmischen Charaktere übertragen lassen und sei es in einem Remake von Hanekes „Liebe“, wie Ethan Hawke wohl scherzhaft vor versammelter Presse vermerkte. Mir egal, Hauptsache es geht weiter mit den beiden….