Vor Beginn der Berlinale hat Kosslick uns viele starke Frauen im Wettbewerb versprochen.Was bekam die gespannte ZuschauerIn zu sehen?

 

 

 


„Gloria“
– in dem dokumentarisch anmutenden Film von Sebastián Lelio – ist eine 58jährige Chilenin, die sich das Staunen über die Welt durch ihre großen Brillengläser noch nicht ganz abgewöhnt und auch noch keine Lust auf Altersdepression hat. Wacker schleppt sie sich zum Seniorentanz, fängt eine Beziehung mit einem älteren Herren mit Bauchgurt an, obwohl sie frühzeitig merkt, dass er ein emotionaler Waschlappen ist, der sich nie von seiner Ex-Frau und den unselbstständigen, fast erwachsenen Kindern hat lösen können.

Zudem besucht Gloria, die sehr überzeugend von Paulina Garciá gespielt wird, Lachseminare, singt lauthals lebensfrohe Popsongs von früher im Auto mit, bietet einer hässlichen Nacktkatze, um die ihr psychopathischer junger Nachbar sich nicht richtig kümmern kann, Asyl. Doch niemandem erzählt sie von ihrer Augenkrankheit, durch die sie wahrscheinlich in naher Zukunft allmählich erblinden wird. Gegen Ende tanzt sie allein, trotzig und „lebensfroh“ zu ihrem Song „Gloria“ von Umberto Tozzi…Als sich eine Journalistin auf der Pressekonferenz zu dem Ausruf „Ich liebe Gloria“ hinreißen ließ, überkam mich das Gefühl, dass die alles in allem doch sehr unauffällig bleibende Gloria womöglich als Vorbild ein zu kleiner gemeinsamer Nenner für die starke Ü50-Frau von heute -auf die sich alle einigen können – sein könnte…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorhang auf, wir machen die Bekanntschaft mit „Layla Fourie“  – in dem gleichnamigen Film der in Südafrika geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Regisseurin Pia Marais. Allein, also völlig auf sich allein gestellt, zieht Layla in einem von Misstrauen und Angst geprägten Südafrika von heute – wie es im Film erschreckend dargestellt wurde – ihren Sohn Kane groß. Sie selbst ist eine überaus integere Frau, hat sich sogar dazu ausbilden lassen, künftig potentielle Bewerber für die Kunden ihrer Firma mit dem Lügendetektor zu testen.

Als sie bei einem Autounfall versehentlich einen Mann zu Tode fährt, entschließt sich die sichtlich starke, aber auch sehr verschlossene Frau, die im ganzen Film nicht einmal Anlass zum Lächeln hat , ihrem Sohn zuliebe die Sache zu vertuschen…

 

 

 

 

 

 

Ein Autounfall mit tödlichen Folgen und die Sorge um den Sohn spielen auch eine Rolle bei dem rumänischen Drama „Child’s Pose“. Herrschaftszeiten, diese „starke“ Frau ist wiederum dermaßen unsympathisch, mit ihren Pelzen, ihrer maskenhaft aufgetragenen Schminke und ihren Handtaschen voller Schmiergelder. Mit dem Geld will sie ihren hypochondrischen Sohn Barbu, den sie Zeit seines Lebens kontrolliert und überbemuttert hat, vor einer Gerichtsstrafe bewahren – hat ihr Ein und Alles doch ärgerlicherweise ein Kind aus der Unterschicht überfahren…

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Nina Hoss – in Thomas Arslans unfreiwillig bei der Pressevorführung mit Gelächter bedachten Western „Gold“ – fällt vermutlich ebenfalls unter Kosslicks Vorstellung einer starken Frau. Sie lässt ihr Leben als Dienstmädchen in Bremen hinter sich, um mit einer fast ausschließlich männlichen Truppe 1898 den langen beschwerlichen Weg zum Klondike-River zu machen. Dort will die Frau mit dem undurchdringlichen Gesicht und der Gefühlspalette eines Kühlschranks (inklusive Gefrierfach) – deren Motive und Hintergrundgeschichte uns Arslan, genau wie die der andern Figuren, leider weitestgehend vorenthält – auf Goldsuche gehen…


Mitleidserregender (und auch filmischer) Tiefpunkt des starke-Frauen-auf-der-Berlinale-Reigens ist ausgerechnet Juliette Binoche in Bruno Dumonts langatmigen und handlungsarmen Historiendrama „Camille Claudel 1915“. 1915, da war die ehemalige Schülerin und Geliebte von Rodin, die ihm künstlerisch mindestens ebenbürtig war, bereits von ihrer Mutter und ihrem geliebten Bruder Paul Claudel für immer in eine Nervenheilanstalt weggesperrt worden.

Umgeben von geisteskranken Frauen, denen die Zähne im Mund verfaulen und die Spucke aus demselben hinaustropft (wie kommt Mann nur auf die Idee echte geisteskranke Laiendarstellerinnen für diese Rolle zu casten und dermaßen „vorzuführen“) verbringt die große Künstlerin den Rest ihres Lebens dort. Wer sich zuvor nicht mit dem Leben und Werk der Camille Claudel auseinandergesetzt hat, wird nicht begreifen, was für eine großartige Künstlerin (und wirklich starke Frau) der Welt an ihr verlorengegangen ist…

 

 

 

 

 

 

Auch die 16jährige Suzanne in „La Religieuse“ nach Diderots gleichnamigen Aufklärungsroman wurde gegen ihren ausdrücklichen Willen in ein Kloster gesperrt. Ihren unauslöschlichen Drang zur Selbstbestimmung bezahlt sie mit einem hohen Preis. Zunächst wird sie von einer sadistische veranlagten Nonne (Louise Bourgoin) gequält und nachdem sie ihre Verlegung durchgeboxt hat, von einer lesbischen Nonne(Isabelle Huppert) bedrängt. Allein die hinreißende Darstellung der Suzanne, durch die Newcomerin Pauline Étienne, vermag über das bedrückende Schicksal dieser wahrlich starken Frau hinwegzutrösten.

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Auch das dicke, von ihrer – nach Kenia als Sextouristin gereisten – Mutter in einem Diätcamp abgestellte, blutjunge Mädchen in Ulrich Seidls Film „Paradies: Hoffnung“, die sich  so herzig mit ihrer Freundin über „Blowjobs“ austauscht, unglücklich verliebt in einen verklemmten alten Diätarzt ist und in einer Kneipe beinahe vergewaltigt wird, ist trotz ihrer, auch ihrem Teenageralter geschuldeten, Resthoffnung kein sagen wir mal fröhlich stimmendes oder nachahmenswert scheinendes Beispiel einer starken jungen Frau..

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Zwei Frauen mit krimineller Vergangenheit werden uns in  Denis Côtés düsterem Märchen „Vic + Flo haben einen Bären gesehen“ präsentiert. Auch über die beiden erfährt frau ausgesprochen wenig, außer noch dass die ältere die jüngere liebt, diese sich wiederum aber auch zu Männern hingezogen fühlt. Am Ende sind beide tot, umgebracht von einer starken? Frau, die einfach nur abgrundtief böse ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die meisten großen Frauenfiguren, die die ZuschauerInnen in den Filmen im Berlinale-Wettbewerb erleben durften, waren entweder weggesperrt, paranoid, mörderisch, kontrollsüchtig, ein bisserl lebenshungrig, gefühlskalt, verhärmt und/oder verschlossen.

Identifizieren konnte ich mich nur schwerlich mit ihnen – zumal viele der RegiseurInnen uns nur spärlich am Innenleben ihrer Protagonistinnen teilhaben liessen – und ich frage mich warum wir „stark“ im Zusammenhang mit Frauen stets mit solchen Zuschreibungen assoziieren sollen. Wenn eine starke Frau sein heißt, trotz aller Widerstände und gesellschaftlicher Fehlentwicklungen irgenwie zu überleben und sich bestenfalls ein Quentchen geheimes Gefühlsleben zu bewahren, dann haben die ZuschauerInnen in der Tat eine Reihe starker Frauen gesehen. Und die Berlinale 2013 überlebt.