Im grellbunten Universum der Mary Ocher hat sich trotz des paradiesischen Albumtitels „Eden“ noch nichts in Wohlgefallen aufgelöst.

Mary Ochers zweites Album wird von der kreativen Reibungsenergie der Wahlberlinerin getragen. Die eklektischen Songs der russischstämmigen Israelin bohren sich mal poetisch säuselnd oder folkloristisch schunkelnd, mal fordernd und eindringlich ins Ohr. Allem zu Grunde liegt eine rohe, oft wütende Energie. Im Interview mit Mary Ocher ist davon nichts zu spüren. Ocher ist eine Frau der leisen Töne, ihre Antworten sind ruhig, bedacht und ausgesprochen höflich. An diesem sonnigen Nachmittag in unmittelbarer Nähe des trubeligen Boxhagener Platz in Friedrichshain schenkt sie ihrer Interviewpartnerin ungebrochene Aufmerksamkeit. Abgesehen von dem ein oder anderen Hunde-Kommentar: Die Musikerin ist eine leidenschaftliche Dog Spotterin.

Seit sechs Jahren wohnt Mary Ocher in dem Berliner Bezirk mit der gefühlt höchsten Hundedichte der Welt. Ähnlich bekannt ist Friedrichshain für seine hochpolitisierte Ausrichtung. Perfekt also, könnte man meinen, für Mary Ocher. Auf „Eden“ tummeln sich neben traurigen Liebeskummerliedern und poetischen Traumbildern auch viel beißende Satire und Kritik, die allerdings nicht ganz so explizit politisch ausfällt wie auf ihrem Erstling „War Songs“. Mary Ocher, die sich laut eigener Aussage seit dem Aufkeimen der Protestbewegung in Moskau nicht mehr für ihren Geburtsort schämt, schreibt zornige Protestsongs. Sich festnageln lassen und ihren Zorn instrumentalisieren mag sie jedoch nicht. „Ich finde, Politik ist etwas sehr persönliches“, sagt sie, und fügt hinzu, dass sie nach mehreren Anläufen nun endlich ein Wohnprojekt gefunden hat, in dem sie sich frei entfalten kann. „Es ist sehr schwer, einen Ort zu finden, der dir wirklich erlaubt, du selbst zu sein. Mit Menschen, die dich nicht verändern wollen.“

Foto: Guido Woller

Nicht nur musikalisch meidet Mary Ocher starres Regelwerk, Genre- oder Gruppenzugehörigkeit, auch privat mag sie sich nichts vorschreiben lassen, hasst Hierarchien und jede Form von Dogmatismus. Zu sehr erinnert sie die Tendenz, sich in die Belange anderer Menschen einzumischen an die Kleingeistigkeit ihres israelischen Heimatorts. Als sie vier Jahre alt war zog Mary mit ihrer Familie von Moskau nach Israel und tauschte dabei schlagartig eine mittelständige Existenz gegen relative Armut ein. In ihrem Viertel wohnten Menschen verschiedener Herkunft dichtgedrängt zusammen aneinander vorbei. „Jeder hasste jeden“, erinnert sich Mary, „Und gleichzeitig mischte sich jeder in die Angelegenheiten anderer.“ Früh begann sie, gegen Xenophobie, Nationalismus und Dogmatismus zu rebellieren, brach die religiös geprägte Schule ab, verweigerte den obligatorischen Militärdienst. Nach Berlin zog sie 2007 zunächst mit ihrer Band Mary & The Baby Cheeses. Nach und nach kehrten die anderen Bandmitglieder zurück. Für Mary gab es jedoch neben der Musik nie eine Alternative.

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In ihren Texten verarbeitet sie Erfahrenes, übt Kritik, stößt an. Dennoch bleiben die Texte bilderreich und suggestiv, öffnen Bedeutungsebenen, anstatt sie zu schließen. Auf die Frage, ob sie mit ihrer Kunst etwas verändern will, gibt es also keine eindeutige Antwort. „Ich hab keine Lust, auf Leute zuzugehen und zu sagen: ‚So und so sollt ihr Leben.’ Das ist nur eine weitere Form von Gewalt.“ Berühren und verändern kann Mary Ocher wohl vor allem im Dialog mit dem Publikum. Dabei spielt für sie häufig keine Rolle, wie die Reaktionen ausfallen, Hauptsache sie sind intensiv. „Früher habe ich viel auf der Straße gespielt. Da gab es oft heftige Reaktionen, negativ wie positiv.“ erzählt sie, „Ich mag das, das Konfrontative. Ich mag die Kraft dahinter, den unmittelbaren Austausch.“

Self Portrait

Wenn Ocher auf die Bühne steht, mit ihrem minimalistischen Set Up und ihrem Low-Fi-Anspruch, passiert etwas ganz Besonderes: „Ich habe auf einmal das Gefühl, mit meiner Stimme alles machen zu können, Ideen zu vermitteln, Verbindungen zu knüpfen, es ist irre. Früher hatte ich furchtbares Lampenfieber.“ Die Einsicht, dass sie nur eine authentische Erfahrung teilen kann, bedeutet für Ocher auch, dass sie sich nicht hinter Soundeffekten und üppigen Arrangements verstecken will. „Ich mag das Raue. Ich glaube nicht an die polierte Oberfläche, das ist so weit entfernt vom organischen, echten Ausdruck.“ Auch das gehört zu der Art Veränderung, die Mary Ocher gerne anstößt: „Ich möchte sichtbar werden“, meint sie, und erzählt dann, wie sie während eines Straßenkonzerts von einem etwa dreizehnjährigen Mädchen angesprochen wurde. „Sie kam auf mich zu und sagte, dass ich ihr Mut geben würde, das Gleiche zu tun. Das war toll, ich meine sie war nicht besonders trendy oder hip, sie war ‚geeky’ und ‚awkward’, und sie spürte die Berechtigung, sich auszudrücken. In solchen Momenten habe ich dann deutlich das Gefühl, das Richtige zu machen und Menschen positiv zu beeinflussen.“

Mary Ochers neustes Album Eden ist am 14.06. auf Buback/Indigo erschienen. Besonders gut lässt sich der elektrisierende New-Wave-Vibe von Mary Ocher live erleben, wenn die träumerische Wut der Solokünstlerin Teil der Performance wird. Konzerttermine findet ihr hier.

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