Nach wie vor herrscht in der elektronischen Musik- und Clubszene ein extremes Missverhältnis zwischen den Geschlechtern. Was ist aus der einstigen Utopie eines „geschlechtslosen“ Sounds geworden?
Von Vina Yun

Geschlechterverteilung auf Festivals weltweit (Grafik: Stefanie Rau)

Elektronischen Musikgenres und Spielarten der digitalen Kunst eilt der Ruf voraus, innovativ, experimentierfreudig und aufgeschlossen zu sein. „Festival for Adventurous Music and Arts“ nennt sich etwa der diskursaffine Berliner Club Transmediale (CTM). „Hier wird ausprobiert, bewertet, neu erfunden, nach dem gesucht, was uns Menschen als Gesellschaft ein Stück weiterbringt“, proklamiert die Ars Electronica in Linz, eines der größten Medienkunstfestivals weltweit, in ähnlicher Gesinnung. Und doch stellt sich die Repräsentation weiblicher Künstlerinnen in diesen als „fortschrittlich“ geltenden Räumen alles andere als progressiv dar. So wurden etwa bei der Ars Electronica im vergangenen Jahr 95 Künstler, aber nur 32 Künstlerinnen gezählt (sowie drei Projekte mit gemischtgeschlechtlicher Beteiligung). Vergleichweise erbärmlich erscheint die jüngste Ausgabe des CTM, die 2013 mit 18 weiblichen versus 153 männlichen Acts glänzte (sieben gemischt). Ähnlich desaströs sieht das Geschlechterverhältnis bei zahlreichen anderen Festivals aus, sei es das Melt! (48:5, 2012), die c/o Pop in Köln (54:14, 2012), die Fusion (107:20, 2012), Mutek in Montréal (46:4, 2012), Sónar in Barcelona (58:2, 2013) oder das Krakauer Unsound-Event (83:7, 2012).

Diese ernüchternden Zahlen stammen aus einem vor Kurzem veröffentlichten Report des internationalen Elektroniknetzwerks female:pressure, der zum internationalen Frauentag am 8. März der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Neben dem Line-Up zahlreicher Festivals wurden auch Veröffentlichungen von Plattenlabels sowie Chartlisten zu elektronischer Musik analysiert. „Die Ergebnisse sind erschütternd“, kommentierten female:pressure ihren Befund, „selbst für uns, die wir mitten in der Szene zu Hause sind. Ein Frauenanteil von zehn Prozent kann heutzutage bereits als überdurchschnittlich gelten.“ Zählt man alle untersuchten Festivals – rund fünfzig – zusammen, beträgt der prozentuelle Anteil von weiblichen Artists 8,4 Prozent, während Männer fast 84 Prozent stellen, die weiteren rund acht Prozent machen gemischte Acts aus. Festivals wie e_may in Wien oder Les Femmes s‘en mêlentin Paris, die ausschließlich mit Frauen besetzte Programme präsentieren, sind hier nicht mitgezählt. Mit ihnen erhöht sich die weibliche Gesamtquote aber ohnehin nur geringfügig – auf sage und schreibe 10,3 Prozent.

„Die vermeintlich abstrakte Musik wurde geschlechtslos gedacht – aber ausschließlich von männlichen Protagonisten umgesetzt.“

Die Erklärungsversuche für dieses krasse Missverhältnis sind ebenso bekannt wie widersprüchlich. Immer wieder wird das alte Klischee strapaziert, Frauen würden schlichtweg eine geringere Affinität zu Technik pflegen. Zugleich ist aber davon die Rede, dass marginalisierte Gruppen von technologischen Innovationen, wie in der elektronischen Musik und digitalen Kunst, besonders profitieren, weil diese es leichter machten, selbst aktiv zu werden. „Technologische Entwicklungen alleine führen nicht zu einer egalitären Gesellschaft“, meint die Wiener Soziologin Rosa Reitsamer. „Der Zugang zu Video, Computer, Software ist ohne Zweifel einfacher geworden. Aber es bedarf auch des Know-hows, um die Produktionsmittel zielgerichtet nutzen zu können, ebenso wie der Unterstützung eines Netzwerks, damit die kulturellen Produktionen zirkulieren können.“ Häufig wird feministische Kritik auch mit dem Argument abgeschmettert, dass elektronische Musik ohnedies „geschlechtslos“ sei – weil „körperlos“ und damit von jeglicher Geschlechtsidentität befreit.

Die Vorstellung eines vom Geschlecht unabhängigen Sounds wurde einst als vielversprechende Utopie gehandelt. Insbesondere in den 1990ern feierte man in den Diskursen zu Techno und zur DJ-Kultur den Bruch mit traditionellen Formen der Autorenschaft. „Für einen kurzen Moment war es tatsächlich so, dass feministische, queere und antirassistische Akteur_innen der Clubkultur ein Erodieren der traditionellen Repräsentationsformen der Rockkultur feststellen konnten“, berichtet Rosa Reitsamer, die zu elektronischen Musikszenen und Clubkulturen forscht. Und dennoch: „Die vermeintlich abstrakte Musik wurde geschlechtslos gedacht – aber ausschließlich von männlichen Protagonisten umgesetzt“, wie Kirsten Reese, Elektronikkomponistin aus Berlin, analysiert. „Selbstverständlich findet auch elektronische Musik in historischen und sozialen Kontexten statt. Inszenierung und Performativität traten in der elektronischen Musik, die keine Bühnenshow, keine Gesangsstimmen hatte, stark zurück. Es gab also weniger Bewusstsein dafür, dass jeder Auftritt in unterschiedlichen Graden eine Selbstinszenierung ist – und damit auch für potenzielle Brechungen von Geschlechterrollen.“

„Niemand würde behaupten, Frauen aktiv zu diskriminieren. Gerade das macht es so schwer.“

Ob die für elektronische Musik-Acts klassische Laptop-Performance tatsächlich so „genderneutral“ ist wie angenommen, war auch die Ausgangsfrage für den 2005 erschienenen Reader „Gendertronics“, herausgegeben vom Club Transmediale. Fast ein Jahrzehnt später scheint sich für das Festival die Geschlechterfrage – wie die aktuelle Programmierung nahelegt – indes erledigt zu haben. Dass Frauen in der elektronischen Musik- und digitalen Kunstszene notorisch unterrepräsentiert sind, bleibt im Jahr 2013 trauriges Faktum. Doch wie kann es sein, dass gerade hier die Genderpolitik den seit Jahren vorgebrachten Quotenforderungen in Wirtschaft und Politik so dermaßen hinterherhinkt? „Niemand würde behaupten, Frauen aktiv zu diskriminieren. Gerade das macht es auch so schwer, Formen des Ausschlusses, die frau spürt, präzise zu benennen“, erläutert Kirsten Reese. „Da geschlechtsspezifische Gruppenbildungen und Ausschlüsse im Wesentlichen unbewusst passieren, halten sich diese gerade in informell organisierten Bereichen am hartnäckigsten. In staatlichen Organisationen werden Gleichstellungsprogramme aufgelegt, in unreglementierten sozialen Räumen wie der elektronischen Musikszene halten sich hingegen ungeschriebene Codes stärker.“ In eine ähnliche Richtung geht auch die Erklärung von female:pressure: „Wir unterstellen nicht, dass Veranstalter und Kuratoren aus purer Misogynie fast ausschließlich männliche, weiße Künstler buchen, sondern weil es den sozialen Gepflogenheiten entspricht“, resümieren die Aktivistinnen in einer Aussendung zum Report.

Geschlechterverteilung in Labels weltweit (Grafik: Stefanie Rau)

Um ein Gegengewicht zu den männlichen Seilschaften zu bilden, haben sich seit den 1990er-Jahren zahlreiche Initiativen wie female:pressure, Pink Noises, Sister DJs, DJ Girl, Shejay, Women on Wax oder Her Beats/Women in Electronic Music gebildet. 2011 enstand das Filmprojekt „Girls Gone Vinyl: The Untold Story of Female DJs“ anlässlich des Detroit Electronic Music Festivals. Schließlich konnte auch beim größten Festival für elektronische Musik der USA von Gender Balance keine Rede sein: Unter den über einhundert Acts waren ganze sechs weibliche DJs.

„Veränderungen passieren nicht von selbst – sie bedürfen besonderen Einsatzes, nicht nur vonseiten der Künstlerinnen.“

Viele der Initiativen verschwinden nach relativ kurzer Zeit wieder von der Bildfläche. Besonders langlebig ist dagegen das female:pressure-Netzwerk, das 1998 von der Wiener Musikproduzentin und Techno-DJ Susanne Kirchmayr aka Electric Indigo ins Leben gerufen wurde, als „Antwort auf die gängigen Kommentare, dass es so wenig Frauen in der Szene gäbe“, wie es in der Selbstdarstellung heißt. Derzeit zählen Datenbank und Community rund 1.200 Mitglieder in 56 Ländern, die im Bereich elektronische Musik und digitale Kunst arbeiten – DJs, Musikerinnen und Produzentinnen, Vokalistinnen, Künstlerinnen gehören ebenso dazu wie Bookerinnen und Labelbetreiberinnen, Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen. „Einer der Gründe, warum female:pressure schon 15 Jahre lang besteht und laufend wächst, liegt in der informellen Beschaffenheit des Netzwerks“, sagt Electric Indigo. „Es bietet einen Rahmen, der es den beteiligten Künstlerinnen frei lässt, sich zu engagieren oder auch nur passiv dabei zu sein. Andere Initiativen bemühen sich mehr darum, künstlerische, redaktionelle oder theoretische Inhalte zu liefern. Das erfordert einerseits einen wesentlich höheren Zeitaufwand, andererseits auch einen substanziellen Konsens innerhalb der Gruppe. Sobald sich Einzelne in eine andere Richtung entwickeln, beginnt das Konstrukt zu bröckeln.“

Der nach wie vor bestehenden Schieflage zwischen den Geschlechtern zum Trotz ortet Electric Indigo dennoch langfristig einen Wandel: „Weibliche DJs sind kein Exotikum mehr. Der Bereich von Musikproduktion hinkt dieser Entwicklung allerdings ein wenig hinterher. Grundsätzlich passieren die Veränderungen nicht von selbst, sie bedürfen besonderen Einsatzes – nicht nur vonseiten der Künstlerinnen, sondern vor allem von den Kurator_innen, Club- und Festivalbetreiber_innen und Journalist_innen. Wer wenig Anerkennung bekommt, hat wenig Lust weiterzumachen. Ich bin überzeugt, dass mit einem wachsenden Anteil sichtbarer, kreativ agierender Frauen der weibliche Nachwuchs zahlreicher und auch versierter werden wird.“

Zuerst erschienen in: Missy Magazine 02/13

Am 12. und 13. September findet in Berlin das von female:pressure organisierte Perspectives Festival. Female Perspectives on Electronic Music and Digital Arts im ://about blank statt. Performing Artists sind etwa Gudrun Gut, Ada, Chra, DJ Ipek und Sarah Farina. Worte und Gedanken wird es u.a. von den im Text erwähnten Rosa Reitsamer, Electric Indigo und der Missy-Autorin Vina Yun geben. Missy-Sonja Eismann moderiert ein Panel. Und als ob das schon nicht genug wäre, wird das Festival auch von mehreren Workshops begleitet. Seht das Programm hier.