Von Ana Maria Michel

Zwei Frauen aus der brasilianischen Verlagsbranche und eine Schriftstellerin waren geladen, um über die Lage der Literatur in Brasilien, dem Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, und über die Situation von Frauen in der dortigen Buchbranche zu sprechen. Letztere kamen dabei leider zu kurz.

Die brasilianische Autorin Marina Colasanti und Moderatorin Vera Kurlenina (Foto: Ana Maria Michel)

Dass es in Brasilien nicht besonders gut um die Literatur bestellt ist, wird in Frankfurt schnell klar. Am ersten Tag erzählt die brasilianische Übersetzerin und Journalistin Kristina Michahelles am Stand von Arte, dass es in diesem Land mit über 192 Millionen EinwohnerInnen, von denen zehn Prozent nicht lesen können, weniger als 3500 Buchläden gibt. Ein Buch zückt in der Öffentlichkeit niemand, nicht einmal am Strand. Ähnliche Beobachtungen haben auch Kathrin Passig und Illja Trojanow gemacht, die im Auftrag des Goethe-Instituts eine Zeit lang in Brasilien gelebt und über ihre Erlebnisse gebloggt haben. Trojanow, der in Salvador LeserInnen suchte, erzählt an diesem Donnerstag am Arte-Stand von seinen Recherchen. In São Paulo, dort würden die Leute lesen, hätte er immer wieder gehört. Passig, die in dieser Stadt gearbeitet hat, konnte auch dort keine LeserInnen finden. Die BrasilianerInnen lesen höchstens ihre Smartphones – und was sie darauf lesen, das weiß niemand.

Jedes Jahr lädt der Verein Bücherfrauen, der sich als Netzwerk für Frauen in der Buchbranche sieht, anlässlich der Frankfurter Buchmesse Frauen aus dem Land des Ehrengastes zu einer Diskussionsrunde ein. So fanden sich an diesem Donnerstag, Tag zwei der Messe, drei Vertreterinnen der brasilianischen Buchbranche im Salon Weltempfang, dem Zentrum für Politik, Literatur und Übersetzung, in Halle 5.0 ein. Geladen waren Dolores Manzano, Leiterin des Projekts „Brazilian Publishers“ der Câmara Brasileira do Livro, die für ihr Engagement in Sachen Frauenrechte bekannte Journalistin und Autorin Marina Colasanti und Sônia Machado Jardim, Präsidentin des brasilianischen Verlegerverbandes SNEL und Vize-Präsidentin der von ihrem Vater gegründeten Verlagsgruppe Record. Auch hier ging es vor allem wieder um die Lage der Literatur in dem Land, das kaum jemand nicht mit knappen Bikinis oder der Drogenmafia in den Favelas verbindet. Daneben stand bei der von Vera Kurlenina moderierten Veranstaltung auch die wichtige Frage nach der Situation von Frauen in der brasilianischen Buchbranche im Raum.

Die brasilianischen Bücherfrauen berichten zunächst das, was man auf dieser Messe immer wieder hört: In Brasilien scheint die Literatur keine besonders große Rolle zu spielen. Colasanti sieht den Grund dafür in der Geschichte des Landes, in dem Verlage und Universitäten lange Zeit vom Eroberer Portugal verboten waren, um die Bevölkerung ruhig zu halten und nicht auf aufrührerische Gedanken zu bringen. Die Autorin, die vor allem für Kinder- und Jugendbücher bekannt ist, spricht von einem Sprung in Richtung Modernität – den Brasilien in Teilen noch zu leisten habe. Heute führt der Staat aufwändige Bildungsprogramme durch, damit die Kinder in den öffentlichen Schulen mit Büchern versorgt werden. Die brasilianische Regierung sei die größte Buchkäuferin der Welt, sagt die gelernte Architektin Jardim, doch schon bei der Ausbildung der PädagogInnen müsse man ansetzen, damit diese zu LeserInnen werden, die ihre SchülerInnen für Literatur begeistern können.

Colasanti ist seit den 60er Jahren in der Buchbranche aktiv, doch ins Deutsche wurde bisher keines ihrer Werke übersetzt. So geht es vielen brasilianischen SchriftstellerInnen. Mit dem Projekt „Brazilian Publishers“ setzt sich Manzano, die erst vor vier Jahren von der Pharmaindustrie in die Buchbranche gewechselt ist, dafür ein, dass brasilianische AutorInnen international bekannter werden. Förderprogramme sollen Übersetzungen ermöglichen, um brasilianische Literatur zu internationalisieren. Die brasilianischen Verlage kaufen viel und zahlen gut, wenn es um potenzielle Bestseller geht, sagt Manzano. Und tatsächlich sind die Buchhandlungen Brasiliens voll von Fifty Shades of Grey und Konsorten. Manzano geht das Problem strategisch an, wenn sie ermitteln will, welche Inhalte dem Interesse des Marktes entsprechen könnten. Dass der Wille des Marktes oft nicht viel mit Qualität zu tun hat, führt sie nicht an, als sie schwärmerisch von der „maravilha da cultura brasileira,“ dem Wunder der brasilianischen Kultur, erzählt.

Colasanti sieht das Ganze kritischer, als sie von Kurlenina nach dem Grund für den geringen Bekanntheitsgrad der brasilianischen Literatur gefragt wird. Der internationale Markt suche sich die Produkte aus, die seinen Vorstellungen vom jeweiligen Land entsprächen. Was nicht in das von Klischees geprägte Raster passt, interessiert nicht. Der Markt sucht sich das, was er kennt, denn er setzt auf Sicherheit. Brasilien ist jedoch ein Land voll von Unerwartetem, sagt Colasanti, die oft gefragt wird, was „das Brasilianische“ in ihren Büchern sei. Das sei eine Frage, die man TouristenführerInnen stellen könne, aber doch nicht KünstlerInnen, sagt sie. „Eu tenho en mim muitos mundos“ (In mir vereinen sich viele Welten), fasst die Autorin zusammen, die in Eritrea geboren ist und in Italien gelebt hat. Dieser Satz gilt nicht nur für Colasanti, sondern für ganz Brasilien.

Die Vielfalt des Landes ist ein Punkt, der auf dieser Buchmesse oft besprochen wird. Da ist vom Facettenreichtum der brasilianischen Hautfarben die Rede, der von der indigenen Bevölkerung, den europäischen EinwandererInnen und den BürgerInnen mit afroamerikanischen Wurzeln beeinflusst wird. Ob die Vielfalt des Ehrengastes in Frankfurt mit den vom Kulturministerium eingeladenen SchriftstellerInnen angemessen vertreten ist, bleibt jedoch fraglich, auch wenn es genauso fraglich ist, dass diese Kritik vom sogenannten „Berufsbrasilianer“ Paolo Coelho kommt, der mit seiner esoterischen Pseudoliteratur ganz oben auf den weltweiten Bestsellerlisten steht und die Buchmesse mit seinem Nicht-Erscheinen boykottiert.

Brasilien will sich in Frankfurt als offenes und buntes Land zeigen, sich von Klischees lösen und beweisen, dass es in der brasilianischen Literatur mehr gibt als den ewigen Paulo Coelho. Schon in der zum Auftakt der Messe von Luiz Ruffato gehaltene Rede kommen sehr kritische Töne auf, wenn er auf Machtmissbrauch, Homophobie, Rassismus, soziale Ungleichheiten und den Machismus hinweist. Sich kritisch mit Brasilien auseinanderzusetzen, fällt jedoch nicht allen leicht. Manche schrecken davor zurück, sich auf negative Weise über ihr Land zu äußern. Das wird zum einen deutlich, wenn es um Rassismus geht – und auch, wenn, wie bei der von den Bücherfrauen organisierten Runde, die Situation der Frau in der Buchbranche im Mittelpunkt steht. Zumindest hätte man sie bei dieser Veranstaltung im Mittelpunkt erwartet: Nachdem 45 Minuten lang der brasilianische Buchmarkt analysiert wurde, lenkt die Moderatorin das Gespräch für die letzte viertel Stunde auf dieses Thema, das eine ziemlich oberflächliche Abhandlung erfährt.

Wie auch in Deutschland arbeiten in Brasilien viele Frauen in der Buchbranche, aber in führenden Positionen sind sie kaum zu finden, leitet Kurlenina ein. Das Problem ist auch dort die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Karriere, da sind sich die brasilianischen Bücherfrauen einig. Die Mehrzahl der Frauen kehrt nicht in den Beruf zurück, nachdem sie ein Kind bekommen hat, erzählt Jardim. Manzano erklärt, dass in der ganzen Welt von Frauen Offenheit und Flexibilität verlangt wird. Frauen müssten viele Rollen gleichzeitig spielen. Die aus einer Verlegerfamilie stammende Jardim, die von der Moderatorin zu Beginn als eine der mächtigsten Bücherfrauen Brasiliens vorgestellt wurde, setzt dennoch auf klare, das heißt auf traditionelle Verhältnisse. Sie glaubt daran, dass Männer und Frauen für unterschiedliche Dinge geeignet seien. Die Frauen sollten sich doch mit einem Glas Wein auf dem Sofa zurücklehnen und die Männer, respektive die Chefs, in der Küche machen lassen. Was ganz nett klingt, kochende Männer werden ja gemeinhin als etwas Positives angesehen, und dem Publikum ein Lachen entlockt, sollte doch eher Stirnrunzeln hervorrufen. Jardim scheint es sich in ihrer Führungsrolle etwas zu gemütlich gemacht zu haben. Wie junge Frauen in der Buchbranche aufsteigen können, bleibt bei der Diskussion außen vor.

Richtig in Fahrt kommt das Gespräch der Bücherfrauen an diesem zweiten Buchmessennachmittag in Frankfurt nicht. Publikumsfragen waren nicht vorgesehen, die Moderatorin, die nicht nur Fragen stellen, sondern gleichzeitig übersetzen musste, hielt sich streng an ihr Programm, was das Ganze zu einer recht steifen Veranstaltung machte. Sicher wären die praktischen Kopfhörer hilfreich gewesen, die man sich bei vielen Diskussionsrunden auf der Buchmesse besorgen kann und bei denen man die Wahl zwischen verschiedenen Kanälen mit Simultanübersetzungen in unterschiedlichen Sprachen hat. Die Runde der Bücherfrauen blieb eher klein, man war unter sich und machte es sich auf den roten Sitzwürfeln bequem. Die große Bühne des Weltempfangs direkt nebenan, wo es zwar nur harte weiße Plastikstühle, aber eben auch die Kopfhörer gibt, war besetzt. Hier diskutierten die Autoren Carl Nixon, Luiz Ruffato und Illja Trojanow. Es schaute ganz so aus, als würden die Männer auch an diesem Abend mal wieder kochen.

Die im Programm des Weltempfangs angekündigte Veranstaltung mit Raja Alem aus Saudi-Arabien mit dem vielversprechenden Titel „Literatur und Frauenemanzipation: Welche Rolle spielen Autorinnen?“ war an diesem Donnerstagnachmittag bereits ausgefallen. Viele wichtige Fragen um die Situation der Frauen in der brasilianischen Buchbranche wurden auch bei der Diskussionsrunde der Bücherfrauen nicht angesprochen. Dabei wäre neben der Problematik um Frauen in Führungspositionen auch die Situation speziell von Autorinnen interessant gewesen oder die Frage, wie, beziehungsweise ob, sich die brasilianischen Bücherfrauen organisieren und welche Rolle Manzano, Colasanti und Jardim selbst dabei spielen.

Colasanti, die vor allem in den 80er Jahren als Feministin aktiv war, bringt zum Ende der Veranstaltung dann doch nochmal eine kritische Perspektive ein. Die brasilianische Verfassung sei hinsichtlich Gleichberechtigung eine der fortschrittlichsten – etwas Ähnliches hat man in Frankfurt in dieser Woche schon zum Thema Rassismus gehört. Aber bei der Umsetzung hapert es auch hier gewaltig. Probleme gibt es zum Beispiel bei der Gesundheitsvorsorge für Frauen, im Betreuungssystem und in Fällen von Gewalt gegen Frauen. Was man dagegen tun kann oder wer in Brasilien etwas dagegen tut, wurde bei dieser Veranstaltung der Bücherfrauen nicht mehr zur Sprache gebracht. Die Zeit war eben um.