Von Ana Maria Michel

Im Sommer dieses Jahres wurde Brasilien von einer Protestwelle erfasst, die noch immer anhält. Parallel zur Frankfurter Buchmesse waren es die LehrerInnen, die im diesjährigen Ehrengastland auf die Straße gingen, um bessere Arbeitsbedingungen einzufordern.

Figuren der brasilianischen Literatur auf Totemsäulen aus Papier im brasilianischen Pavillon (Foto: privat)

Was ist plötzlich los in diesem Land, von dem man das öffentliche Aufbegehren in diesem Maße bisher nicht gewohnt war? Die Ereignisse des Sommers konnten sich zwar noch nicht in den Texten der brasilianischen AutorInnen niederschlagen, denn dafür sind sie zu aktuell, doch stand bei dieser Buchmesse häufig die Frage im Raum, was die Leute auf den Straßen Brasiliens antreibt. Die sozialen Probleme des Landes spielen auch in der Literatur der brasilianischen AutorInnen eine Rolle. So geht es in Andréa del Fuegos Roman „Geschwister des Wassers“, der auf die Kehrseite der Modernisierung aufmerksam macht, zum Beispiel um Überflutungen ganzer Dörfer zugunsten eines Staudamm-Projekts der Regierung.

Bei der von der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierten Diskussionsrunde „Land im Aufbruch: Brasiliens Widersprüche auf dem Weg in die Zukunft“ wurde zwar nicht über Literatur gesprochen, dafür aber über die aktuelle Politik des Landes, das sich durch große Vielfalt, aber auch durch große Ungleichheiten auszeichnet. Die Ökonomin und Direktorin des Forschungsinstituts der brasilianischen Gewerkschaften (DIEESE) Ana Georgina da Silva Dias, Silvia Camurça, die sich in feministischen NGOs wie SOS Corpo engagiert, und der Politikwissenschaftler Francisco Josué Medeiros de Freitas sprachen über die Ursachen der Massenproteste in Brasilien.

Dabei sah doch alles in letzter Zeit so gut aus: Die Wirtschaft boomte, über 20 Millionen Menschen schafften den Weg aus der Armut und stiegen in die sogenannte „neue Mittelschicht“ auf. Brasilien wurde auf seinem Höhenflug zum Vorzeigeland unter den BRIC-Staaten. Doch mit dem Wachstum und der Euphorie war es 2012 zu Ende, als das Bruttoinlandsprodukt nur noch um 0,8 Prozent wuchs. Soziale Reformen wurden trotz des Booms bisher nur ungenügend durchgeführt. Die Menschen, die jetzt – ein Jahr vor dem Großereignis der Fußball-WM – auf die Straße gehen, fordern Verbesserungen im Gesundheits-, Bildungs- und im Transportsystem. Sie fragen sich auch, wo die Prioritäten liegen. Die aufsteigende Wirtschaftsnation investiert Millionen für die Repräsentation des Landes bei der kommenden WM und spart auf Kosten der Bevölkerung. Diese muss den Spaß nicht nur bezahlen, sondern wird zum Teil aus ihren Wohnvierteln vertrieben, in denen jetzt Fußballstadien gebaut werden. Wie in del Fuegos Roman sind es auch hier wieder höhere Interessen, von denen die Menschen gnadenlos überrollt werden.

„Die Proteste sind keine Bewegung gegen die Regierung“

Die Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet seit Jahren mit der PT (Partido dos Trabalhadores), der Partei von Präsidentin Dilma Rousseff, zusammen. So lässt sich wohl die Wahl der zur Diskussion geladenen Gäste erklären: „Die Proteste sind keine Bewegung gegen die Regierung“, sagt Dias in der von taz-Redakteur Bernd Pickert moderierten Runde. Dass die Menschen auf die Straße gehen, sei ein Zeichen für das Bedürfnis nach einem sozialen Dialog. Die Regierung schlug sich sogleich auf die Seite der Protestierenden und entwickelte auf die Schnelle einen Plan für politische Reformen. Seine Durchsetzung erweist sich allerdings als sehr schwierig, da sich die Abgeordneten im Kongress querstellen. Das politische System Brasiliens zieht daher die Wut der Bevölkerung auf sich.

Wer sind nun die Leute, die zu Tausenden auf Brasiliens Straßen für ihre Rechte kämpfen? Zunächst waren es die StudentInnen, die in São Paulo gegen die Erhöhung der Preise für Busfahrkarten revoltierten. Das brutale Vorgehen der Militärpolizei, das manche an die Zustände während der Militärdiktatur erinnert, rief weitere Gruppen auf den Plan. Das waren unter anderem bisher unpolitische Menschen, die sich mit den StudentInnen solidarisierten. Doch auch Gruppen, die für die Rechte der indigenen und der afrobrasilianischen Bevölkerung kämpfen, kamen auf den Straßen mit feministischen Bewegungen und vielen anderen zusammen, erzählt Camurça.

„Die Leute wollen nicht weniger Staat, sondern mehr Staat“

Immer wieder ist auch von einer „neuen Mittelschicht“ die Rede. Durch den ökonomischen Fortschritt des Landes wurde einem größeren Teil der Bevölkerung, der vorher nichts hatte, der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildung ermöglicht. Doch vor allem im Sozialen ist bisher immer noch zu wenig getan worden. So haben zum Beispiel Frauen noch immer keinen gleichberechtigten Zugang zu gut bezahlten Arbeitsplätzen und zu Posten in der Politik, erklärt Dias. Außerdem fehlt es im Land, wo ein Arbeitsweg von zwei bis drei Stunden wegen der katastrophalen Verkehrslage keine Seltenheit ist, an Krankenhäusern und Schulen. „Die Leute wollen nicht weniger Staat, sondern mehr Staat“, sagt Camurça.

Dass Brasilien ein Land voller Widersprüche ist, schlägt sich auch in der Diskussion nieder, obwohl die Gäste untereinander einer Meinung sind: De Freitas aber, der selbst aktives Mitglied der PT ist, betont, dass er bei dieser Veranstaltung nicht im Namen seiner Partei spricht, sieht die Proteste als das Beste, was der Regierung passieren konnte. Wie schon Dias und Camurça bewertet er die Demonstrationen nicht als Bewegung, die sich gegen den Staat richtet. Der Autor Luiz Ruffato, der stark sozialkritische Romane schreibt, sieht die Verhinderung von Bildung als Herrschaftsinstrument der politischen Elite. Doch nun fördert die Regierung Bildung und ermöglicht damit eine Politisierung der Bevölkerung. Die Leute sind somit in der Lage, sich für ihre Rechte einzusetzen und eine effektivere Demokratie zu fordern, erklärt Dias.

Ruffato ist jemand, der es – ganz im Sinne der PT – geschafft hat. Er, der aus einer Familie von AnalphabetInnen stammt, ist heute einer der wichtigsten brasilianischen Autoren. Womöglich kann er deshalb kritische Töne anschlagen, weil er der Beweis dafür ist, dass Bildung zu Erfolg führt. Trotzdem können weiterhin zehn Prozent der Bevölkerung Brasiliens Ruffatos Romane und auch die Werke der anderen brasilianischen AutorInnen nicht lesen, weil sie AnalphabetInnen sind.

Bildung ist in Brasilien noch lange nicht bei allen Teilen der Bevölkerung angekommen. Außerdem scheint es nicht so, als würden alle Stimmen des Landes gehört werden. Das zeigt sich auch in der Wahl der AutorInnen, die das brasilianische Kulturministerium nach Frankfurt geschickt hat, wo Brasilien mit dem Motto „Ein Land voller Stimmen auftritt“. Zwar setzt man mit Ruffato, del Fuego oder Ana Paula Maia bei der Buchmesse auf sozialkritische SchriftstellerInnen, doch stammt die Mehrzahl von ihnen aus der weißen urbanen Mittelschicht.

Korruption, das hat es eben schon immer gegeben, lautet der Tenor

Dass die Menschen mit ihrem Protest ein Misstrauen gegenüber der Regierung ausdrücken, wollen die Gäste der Diskussionsrunde der Friedrich-Ebert-Stiftung so nicht unterschreiben. Hier kommt vor allem das Thema Korruption zur Sprache, bei dem die drei sehr vage bleiben. In Brasilien besteht kein Fraktionszwang, was die Durchsetzung politischer Entscheidungen extrem erschwert, weshalb nicht selten unter der Hand Geld fließt.

Korruption, das hat es eben schon immer gegeben, lautet der Tenor und Dias sagt, dass die Bevölkerung nun sogar mehr Vertrauen in die Regierung habe, weil die sich mittlerweile um die Untersuchung von Korruptionsfällen kümmert. Camurça führt an, dass Korruptionsvorwürfe zum Teil als eine Strategie der Rechten zu sehen sind, um die linke Regierung zu schwächen. Dabei hat gerade die PT erwiesenermaßen mit einem enormen Korruptionsskandal zu kämpfen.

Die Diskussionsrunde in Frankfurt wird dominiert von Lob für die brasilianische Regierung. Sie verschafft den Menschen durch Bildungsangebote den Zugang zum Arbeits- und Verbrauchermarkt, schickt Ärzte in die Favelas und in die Peripherien des Landes. Dennoch bleibt Kritik nicht aus. Dias führt zum Beispiel an, dass die neu geschaffenen Arbeitsplätzen mit schlechten Bedingungen und einem sehr geringen Verdienst einhergehen. Die „neue Mittelschicht“, der de Freitas diesen Status noch nicht zusprechen will, wenn er sie als eine neue Klasse von ArbeiterInnen bezeichnet, lebt als „Basis“ der Bevölkerung noch immer unter sehr schwierigen Bedingungen.

In Brasilien liegen Protest und Karneval nicht weit auseinander

Für de Freitas sind die Proteste noch lange nicht zu Ende. Er setzt darauf, dass sie auch während der WM nicht abbrechen werden. Das Bild, das Brasilien nach außen vermittelt, werde der Regierung zu diesem Zeitpunkt herzlich egal sein, denn im Herbst 2014 stehen die nächsten Präsidentschaftswahlen an. „Dann wird die PT alles tun, um zu gewinnen“, stellt de Freitas die Prioritäten seiner Partei nicht ohne kritischen Unterton klar. Das heißt jedoch auch, dass die Partei alles versprechen wird, was die Leute hören wollen.

Womöglich wird es während des Karnevals eine Protest-Pause geben, aber vielleicht auch nicht, meint de Freitas und lacht. Dass in Brasilien Protest und Karneval nicht weit auseinanderliegen, zeigt auch ein Video, das der Künstler Ricardo de Carvalho Duarte, genannt „Chacal“, am Sonntagmorgen, dem letzten Tag der Buchmesse, bei der Diskussionsrunde „Aktuelle Proteste in Brasilien – Formen und Ursachen“ auf der Bühne des Weltempfangs abspielt. Der Film zeigt DemonstrantInnen, die Parolen singen, tanzen und die Polizei zu einem „abraço coletivo“, einer kollektiven Umarmung, bewegen wollen. So friedlich und lustig begannen wohl auch die Proteste tausender LehrerInnen, die parallel zur Frankfurter Buchmesse in Brasilien auf die Straßen gingen. Obwohl die DemonstrantInnen von der Regierung unterstützt werden, kommt es immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen.

Auch in Brasilien machen sich diverse radikale Gruppen die Proteste zu eigen, gibt der Politikwissenschaftler und Soziologe José Murilo de Carvalho zu bedenken, der neben Chacal und dem deutschen Spezialisten für Proteste Felix Butzlaff ebenfalls an der von Holger Heimann moderierten Herrenrunde an diesem Sonntag teilnahm, bei der man mal wieder auf die Stimmen von Frauen verzichtete. Die Menschen sehen, dass ihr Land sich im Aufschwung befindet und erwarten, vom Wohlstand zu profitieren, erklärt Butzlaff und auch de Carvalho versteht die Proteste als Zeichen von „Wachstumsschmerzen“. Laut ihm drücken die BrasilianerInnen keine Enttäuschung gegenüber dem Kapitalismus aus, an den sie weiterhin glauben, sondern sie gehen auf die Straße, weil die Regierung und das ganze politische System Brasiliens nicht funktionieren.

Der Markt bestimmt?

Chacal schätzt die Vorgänge dagegen anders ein. Er glaubt, dass die Leute gegen den Markt revoltieren. „O mercado manda“ („Der Markt bestimmt“), sagt er, der sich mit Kunstevents für die Rechte der indigenen Bevölkerung einsetzt, denn diese besitze – genau wie die DichterInnen – nur wenig Marktwert. Chacal fordert Alternativen zu einer Welt, in der es immer nur um Profit geht. Vor allem junge KünstlerInnen sollen sich nicht den Anforderungen des Marktes unterwerfen, sondern „agir poéticamente“, poetisch handeln. Ein Weg ist in diesem Sinne sicher auch die Thematisierung sozialer Probleme, mit denen man sich lange nicht offen auseinandergesetzt hat, in der aktuellen brasilianischen Literatur. Doch was wird aus den Forderungen der Protestierenden, die sich wegen der vielen Splittergruppen nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen? De Carvalho blickt angesichts der nahenden Wahlen pessimistisch in die Zukunft: „Eles vão prometer tudo e realisar nada!“ („Sie werden alles versprechen und nichts davon umsetzen!“)

Doch noch geht die Party auf den Straßen weiter, auch wenn sie immer wieder in der Eskalation ihr schreckliches Ende findet. Man könnte die Worte in Cecília Giannettis Kurzgeschichte „Brasilien spielt“, die in der Anthologie „Popcorn unterm Zuckerhut. Junge brasilianische Literatur“ erschienen ist, als Beschreibung dieser Situation lesen: „Tröten, Vuvuzelas, Geschrei. Verliert Brasilien oder führt es? Man weiß es nie. Dieses Volk feiert alles.“ „Tudo acaba em samba“ („Alles endet in Samba“), will auch der Moderator Heimann am Ende der Diskussionsrunde am letzten Messetag in Frankfurt fragend zusammenfassen. „Muitas vezes acaba em sange“ („Oft endet es mit Blut“), entgegnet der Dichter Chacal, der in den Protesten dennoch einen wichtigen Antrieb für Veränderungen sieht.