Von Carolin Wiedemann

Nahaufnahme am Berliner Oranienplatz (Foto: Monika Keiler)

 

Napuli? Die beiden Männer am Infostand des Protestcamps am Oranienplatz nicken: „Sie kommt bestimmt gleich zurück, sie kommt immer zurück.“ Und da ist sie, auf ihrem Rad, sie tritt heftig in die Pedale, winkt und grinst. „Entschuldigung, ich bin spät dran“, ruft sie. Sie war gerade noch am Alexanderplatz, um für die Absetzung des umstrittenen TV-Formats „Auf der Flucht“ zu kämpfen.

Napuli Paul Langa, Mitte 20, hat im Herbst 2012 bei der Protesttour der Geflüchteten durch Deutschland mitgemacht und campiert seitdem am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Die Tour und das Camp waren der Auftakt zu einer Selbstorganisation, die in Größe, öffentlicher Wahrnehmung und Schlagkraft alle früheren Geflüchtetenproteste übertrifft – und an der erstmals auch FLINTA zentral beteiligt sind: Lautstark machen sie auf ihre Situation und die doppelte Diskriminierung aufmerksam, wie etwa bei der Konferenz „Flüchtlingsfrauen sagen: Es reicht!“. Sie eignen sich Raum an, wie in einer ehemaligen Schule in Berlin, oder sie halten den Protest gar ganz am Laufen, wie am Oranienplatz, wo Napuli Politiker*innen zum Gespräch in das Camp einlädt, Spenden verwaltet und Arbeitsgruppen organisiert.

Vor einem guten Jahr hielt ein Bus protestierender Asylsuchender vor dem Lager in Braunschweig, in das Napuli einquartiert war. Sie hatte erst ein paar Monate dort verbracht, wesentlich weniger als die meisten, die sich nicht trauten, das Gelände zu verlassen. „Doch ich wusste, ich muss hier weg“, sagt sie. „Man wird in einen Käfig geworfen, ein hoher Zaun verläuft außen herum, Wachpersonal innen, und man muss warten, manchmal bis zu 15 Jahre, immer in der Angst, abgeschoben zu werden. Das macht die Menschen verrückt.“

„Dass Schutzsuchende wie Verbrecher behandelt werden, das ist unglaublich.“

Auf den Suizid eines iranischen Asylsuchenden hin hatten Geflüchtete Anfang 2012 das erste Protestcamp in Würzburg errichtet, Camps in anderen Städten folgten, so auch das Camp am Oranienplatz. Im September 2012 liefen dann 20 Männer vom Camp in Würzburg los, um zu Fuß von Bayern nach Berlin-Kreuzberg zu gelangen. Parallel dazu wurde im Westen Deutschlands auf einer Bustour für die Aktion mobilisiert.

28 Tage nach Beginn des Marsches erreichten 200 DemonstrantInnen den Oranien­platz. Seitdem führen die Aktivist*innen dort ihren Kampf gegen die Unterbringung in Heimen, das Arbeitsverbot und die Residenzpflicht: eine Regelung, die den Radius festlegt, in dem sich Asylsuchende aufhalten dürfen – und die in keinem anderen europäischen Land gilt. „Dass diejenigen, die oft ohnehin schon traumatisiert fliehen, aus Afghanistan, Syrien oder afrikanischen Ländern, dort, wo sie Schutz suchen, wie VerbrecherInnen behandelt werden, ist unglaublich“, sagt Napuli, die aus dem Sudan geflohen ist.

 

(Foto: Monika Keiler)

Napuli und die anderen Aktivist*innen vom Camp freuen sich zwar über ein warmes Winterquartier, doch die Zelte am Oranienplatz müssen stehen bleiben, bis die Forderungen erfüllt sind. Auf der Oranienstraße wird sie von PassantInnen gegrüßt. Auf Englisch erzählt sie, wie sie das Camp aufbauten: Dezentral, basis-demokratisch und offen sollte es sein. Immer neue Menschen kamen dazu; andere gingen, um den Protest andernorts fortzusetzen. Napuli ist die Einzige am Oranienplatz, die schon bei der Protesttour dabei war und geblieben ist. Sie hat darum gerungen, dass nicht – wie bei früheren Geflüchtetenbewegungen, zu denen sich Exil-Communities oft im Hinblick auf ihr jeweiliges nationales Verfolgungsschicksal zusammenschlossen – einzelne Gruppen den Protest dominieren oder Männer, wie es ebenfalls bei den meisten früheren Bewegungen der Fall war. Napuli gibt dafür im Camp Trainings zur Sensibilisierung: „Wir besprechen, was Sexismus überhaupt ist, dass schon bestimmte Arten zu sprechen Frauen ausschließen oder diskriminieren.“ Das würde auch die Zusammenarbeit mit den Frauen aus der Schule erleichtern.

Seit 15 Jahren gibt es Protest gegen die Verhältnisse in den Heimen. Es ändert sich: fast nichts.

Die Schule ist der andere zentrale Ort des Protests in Berlin, zehn Fußminuten vom Camp entfernt. Als im vergangenen Jahr der Winter einbrach, besetzten die AktivistInnen vom Oranienplatz eine seit fast zwei Jahren leer stehende Kreuzberger Schule, in der Absicht, sie deutschlandweit zum Zentrum des Protests zu machen. Beim Einzug in das Gebäude okkupierte eine Gruppe von geflüchteten Frauen und UnterstützerInnen einen eigenen Bereich, den Männer nicht betreten dürfen: den „International Women Space“.

Sexismus innerhalb der Bewegung nach außen zu thematisieren, ist zweischneidig, das wissen die protestierenden Frauen. Im Juni haben die Aktivist*innen vom Oranienplatz gemeinsam mit jenen aus der Schule ein Statement veröffentlicht, in dem sie zum einen Sexismus verurteilen und zum anderen an die Macht des Rassismus erinnern: „Es muss anerkannt werden, dass die Vorstellung, männliche Refugees seien sexistischer als andere Männer, durchzogen ist von hegemonialen, rassistischen Denkweisen, die männliche Refugees als Vergewaltiger und Kriminelle darstellen.“ Solange es aber weltweit Sexismus gibt, in der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland wie in den meisten Ländern, aus denen die Menschen geflohen sind, macht er auch vor der Flüchtlingsbewegung nicht halt. Deshalb braucht es den Raum nur für Frauen, zum Schutz, aber auch zur Selbstorganisation, finden Anna und Terese, die aus Kenia geflohen sind und seit März in einem der ehemaligen Klassenzimmer im „Women Space“ wohnen.

Links stehen drei Betten, daneben eine Sitzecke. Die Möbel wurden von Unterstützer*innen gespendet, genauso der Kühlschrank und zwei elektrische Kochplatten. Terese und Anna hatten jeweils nur einen Koffer dabei, als sie ankamen und wieder einmal hofften, dass sie an diesem neuen Ort endlich ein bisschen Mensch sein könnten. Sie haben einen Blümchenbezug über die alten Sessel gelegt, Terese steht gerade am kleinen Herd und rührt in einem Topf mit Spinat und Sardellen. Der aufsteigende Dampf verbreitet einen würzigen Geruch, der sich in der Mitte des Raumes mit dem Duft von Annas Bodylotion mischt. Sie hat sich gewaschen über einem Eimer, gefüllt mit Wasser aus den Toilettenräumen im Treppenhaus.

Während sie sich eincremt, erzählt sie vom Lager, davon, dass sie mit anderen Geflüchteten, die nicht dieselben Sprachen beherrschen, die nicht wie sie und Terese fließend englisch sprechen, auf engstem Raum zusammengesperrt waren, in ein kleines Zimmer gepfercht, dass ihnen Essen und ein Bett gegeben wurde, wie in einer Viehzucht für alle das Gleiche. „Und dein Leben soll sein: Essen, Schlafen, Essen, Schlafen!“, ruft sie und schlüpft in ein kurzes Kleid. Terese würzt nach und sagt: „Menschen sind kreative, kommunikative Wesen – wenn sie eingesperrt sind, nichts selbst entscheiden  dürfen und keine Intimsphäre haben, gehen sie ein. Das ist psychische Folter.“

Das Personal muss jetzt klopfen, bevor es die Zimmer betritt – ein kleiner Erfolg.

Auf die Forderungen der Camp-Aktivist*innen hin wurde zwar erstmals überlegt, Geflüchtete in den Heimen das ihnen zustehende Geld in bar auszuzahlen und das Gutscheinsystem abzuschaffen. Ein System, mit dem zum Beispiel der ehemalige Innenminister Niedersachsens Uwe Schünemann (CDU) erklärtermaßen„Anreize zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland bzw. zum Verbleib“ vermeiden wollte. Doch obwohl es schon seit den 90er-Jahren beständig Protest gegen die Verhältnisse in den Heimen gab, hat sich dort insgesamt kaum etwas geändert – worunter Frauen ganz besonders leiden.

So erzählt Elisabeth Ngari von Women in Exile (WIE), einer Selbstorganisation, die bereits 2002 in Brandenburg gegründet wurde: „In den Lagern ist viel zu wenig Platz, gerade Frauen sind Übergriffen ausgesetzt, vom Heimpersonal und auch von männlichen Flüchtlingen.“ WIE initiierte 2011 die Kampagne „Keine Lager für Frauen und Kinder. Alle Lager abschaffen!“ mit der Übergabe eines Memorandums an den Brandenburgischen Sozialminister. „Das war ein kleiner Erfolg“, erzählt Ngari, die von 1996 an selbst sechs Jahre in einem Geflüchtetenheim in der Uckermark verbrachte, „das Sozialministerium hat dem Heimpersonal auf unsere Initiative hin verboten, ohne Klopfen die Zimmer der Flüchtlinge zu betreten, in manchen Heimen getrennte Frauentoiletten einrichten lassen und darüber nachgedacht, Frauen in Wohnungen unterzubringen.“

 

Elisabeth Ngari (WIE) scheint es unmöglich, die Lebensbedingungen in den so genannten Heimen so zu verbessern, dass sie zu annehmbaren Unterkünften werden. Sie fordert: Keine Lager für Frauen und Kinder! (Foto: Monika Keiler)

 

Doch jetzt, da etwa im Zuge der Krise in Syrien mehr Menschen als in den letzten Jahren nach Deutschland fliehen, befürchtet Ngari, dass die Politik die Entwicklung wieder rückgängig machen könnte, mit der Behauptung, dass man solche Kapazitäten nur begrenzt hätte. In Hamburg Lokstedt wurde gerade ein sogenanntes Containerdorf eröffnet, auch in anderen Städten wird wieder über neue Lager beraten. Die neue Protestbewegung aber mache Hoffnung, sagt Ngari. Sie wünscht den geflüchteten Frauen Durchhaltevermögen, sich weiter zu organisieren. So wie bei der Konferenz im April in Hamburg.

130 Frauen aus 29 Ländern haben daran teilgenommen. Viele waren aus Geflüchtetenheimen angereist, tauschten auf der Konferenz ihre Erfahrungen aus und formierten Arbeitsgruppen, um ihre Position innerhalb der Bewegung weiter zu stärken, wie mit der dort gegründeten „KARAWANE Flüchtlingsfrauenbewegung“. Napuli war auch dort, sie sprach über ihren Kampf, über die Situation im Camp. Die Frauen gingen nach der Konferenz zum Teil wieder zurück in die Lager, verbreiteten die Botschaften des Protests, erzählten von der Schule in Kreuzberg.

Verglichen mit dem Lager leben Anna und Terese im Kreuzberger Camp wie im Paradies

Anna holt Flickzeug aus einem Kästchen, um ein Loch in den Leggins zu stopfen, die sie unter ihr Kleid zieht. Terese verteilt Grieß auf Tellern und gibt die grüne Spinat-Sardellen-Soße dazu. „Im Lager habe ich anfangs immer gedacht, dass es vorübergehend ist, dass sie mir bald eine Wohnung geben. Dann aber wurde ich in ein anderes Lager verlegt“, sagt Terese. „Da waren wir kilometerweit von der nächsten Bushaltestelle entfernt, keine Menschenseele lebte in der Umgebung – als ob sie uns verstecken wollten“, fügt Anna hinzu. Hier sind sie unter Menschen, sie können in den Park gehen oder ans Maybachufer, dahin, wo die Leute aus dem Viertel das Leben genießen, sie können selbst entscheiden, was sie von den Spenden der UnterstützerInnen kaufen wollen, selbst kochen, selbst ihre Lotion wählen und Kleider nähen. „Verglichen mit dem Lager ist das das Paradies.“ Sie haben jedoch permanent Angst, zurück zu müssen.

Aktuell kann sich die Bürgermeisterin des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg Monika Herrmann (Grüne) noch durchsetzen gegen den Druck des Senats, das Camp zu räumen. Doch Innenstaatssekretär Bernd Krömer (CDU) wird nicht müde zu wiederholen: „Es ist die Pflicht der Geflüchteten, einen ordnungsgemäßen Antrag auf Asyl zu stellen.“ Genau wie Anna und Terese würde auch Napuli gemäß dieser Gesetzeslage wieder in ein Lager zurückgeschickt werden. Das wird sie nicht akzeptieren.

Napulis Vater war Politiker in der Partei des sudanischen Staatspräsidenten al-Bashir und damit meist im Regierungssitz im Nordsudan. Sie lebte mit ihrer Mutter und den Geschwistern im Südsudan, wo sie sich schon als Kind gegen patriarchale Strukturen zur Wehr setzte, um die Oberschule zu besuchen. Während ihres Studiums der Development Studies an der Universität in Khartum engagierte sie sich für eine Menschenrechtsorganisation, stieg dort auf. Als der Konflikt zwischen Nordsudan und Südsudan 2011 eskalierte, gab ihr Vater sein Amt auf – Napulis Familie gehörte zu den Staatsfeinden. Napuli wurde gefangen genommen. Nach vier Tagen Haft in einem Keller ohne Licht, in denen man sie misshandelte, wurde sie plötzlich entlassen, sie sollte wichtige Unterlagen zu den Nichtregierungsorganisationen beschaffen. Ihr gelang die Flucht in das Nachbarland Uganda, wo sie bald gesucht wurde, dann weiter nach Deutschland.

Die Behörden interessiert besonders, wie sie hierher kam. Nach der Dublin-II-Verordnung der EU aus dem Jahr 2003 dürfen Geflüchtete jeweils nur in dem europäischen Land Asyl beantragen, das sie als Erstes betreten. So kann sie die deutsche Regierung innerhalb Europas oft schnell zurückschieben in die Länder, die ihnen am wenigsten Schutz bieten, wie Italien oder Griechenland. Eingehend werden die Geflüchteten also geprüft, selten wird jedoch sensibel nachgefragt. In den kurzen Interviews müssen sie detailreich, widerspruchsfrei und sinnfällig erzählen, um die Glaubhaftigkeit ihres Schicksals zu beweisen. „Das ist für alle traumatisierten Geflüchteten schrecklich und verhängnisvoll, und für Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, ganz besonders“, sagt Najafi Behsid aus Köln, eine der Gründerinnen von „agisra“, einer Informations und Beratungsstelle von und für Migrantinnen und geflüchtete Frauen. Struktureller Rassismus und Alltagsrassismus bedingen sich wechselseitig. Der Aufschrei gegen die Nazis von Hellersdorf kann nicht darüber wegtäuschen, dass auch in der bürgerlichen Mitte die Ressentiments groß sind. Gegen den Bau von Unterkünften für Asylsuchende zum Beispiel gab es in Deutschland fast immer Widerstand von AnwohnerInnen, der je nach Ortschaft von Protestbriefen an die Politik bis zum Auftauchen eines rechten Mobs reichte.

 

Mimi kämpft nicht um die StaatsbürgerInnenschaft, sondern um ein ruhiges Leben in Sicherheit. (Foto: Monika Keiler)

„Die Würde des Menschen ist unantastbar – das ist verlogen.“ Zu so einem System möchte Mimi nicht gehören.

Mimi wohnt auch in der Kreuzberger Schule,  weil ihre Wohnung um die Ecke zwangsgeräumt wurde und auch aus Solidarität mit den Asylsuchenden, deren Kampf sie nur zu gut versteht. Sie ist ausgemergelt, ihre Erfahrungen zeichnen sich auf ihrem Körper ab. Sie redet nicht gern darüber, wie es ihr als Kind in Kenia erging, und erst recht nicht darüber, wie es weiterging, als sie als Jugendliche in den 1990ern nach Deutschland kam und als Vollwaise in eine Pflegefamilie gesteckt wurde. „Als verwaistes Pflegekind hast du ohnehin schon verloren, schlimmer ist nur: als verwaistes Pflegekind aus Afrika in Deutschland.“ Mimi hat einen unbefristeten Aufenthaltstitel, sie könnte die Staatsbürgerschaft beantragen, aber das will sie gar nicht „Die Würde des Menschen ist unantastbar – das ist verlogen, zu so einem System möchte ich gar nicht gehören. Versklavung und Kolonialismus sind nicht aufgearbeitet, das sitzt tief.“

Dass koloniale Verhältnisse fortwirken, daran erinnern die Aktivist*innen der Bewegung immer wieder. Sie fordern nicht nur ein, was das Grundgesetz vorgibt, einen menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten, sondern sie machen europäische Länder mitverantwortlich für die Zustände in ihren Ländern, sei es Armut bedingt durch fortwährende Ausbeutung oder Morden durch Waffenlieferungen. Das Motto der Karawane beim „Flüchtlingstribunal gegen die BRD“ lautete: Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört. „Aber wir sitzen zusammen und reden. Das hätte sich vor 50 Jahren doch noch keiner erträumt.“ Mimi lächelt und dann fügt sie hinzu: „Vor hundert Jahren durften Frauen ja noch gar nicht wählen!“

Am Oranienplatz telefoniert Napuli mit einem anderen Aktivisten, es geht um ein erneutes Treffen mit Politiker*innen des Berliner Senats. Nach vielen Gesprächen hat die Senatsverwaltung 60 zusätzliche Kältehilfe-Plätze bis Ende März im Bezirk zugesagt. Das Infozelt am Oranienplatz bleibt trotzdem auch im Winter besetzt. Napuli findet: Der Protest muss weiter sichtbar sein, sonst ändert sich nichts. „Falls ich abgeschoben werde, wüsste ich wenigstens: Ich habe gekämpft, für meine Schwestern und Brüder, dafür, dass die Menschen sich näherkommen.“