Gestern Abend fand die Berlinale-Preisverleihung statt. Am Ende war es dann ein Duell zwischen „Boyhood“ und „Bai Ri Yan Huo“.

Der erste war der Liebling von Publikum und KritikerInnen, doch der zweite „Bai Ri Yan Huo (Black Coal, Thin Ice)“ gewann schließlich den Goldenen Bären. An „Boyhood“ bzw. Richard Linklater ging zumindest der Silberne Bär für die beste Regie.

Boyhood (Richard Linklater)

Man hätte es vor dieser Berlinale nicht für möglich gehalten, dass es mal einen Film geben wird, der François Truffauts wunderbarer Antoine-Doinel-Reihe das Wasser reichen kann, dieser Geschichte, in der ein Junge aus Paris zum neurotischsten Mann der Filmgeschichte heranwächst. Doch mit „Boyhood“ gibt es nun tatsächlich ein amerikanisches Äquivalent zum französischen Nouvelle-Vague-Klassiker, natürlich mit dem großen Unterschied, dass Truffaut Doinels Leben viel ausführlicher erzählte.

„Boyhood“ ist ein Coming-of-Age-Film, dessen Plot auf den ersten Blick unspektakulär klingt: Mason (Ellar Coltrane) wächst in chaotischen Familienverhältnissen in Texas auf. Seine Eltern Olivia (Patricia Arquette) und Mason Senior (Ethan Hawke) leben getrennt, der Vater besucht Mason und seine Schwester Samantha (Lorelei Linklater) an den Wochenenden. Das Leben der Eltern ist zwar turbulent, aber beide lieben ihre Kinder aufrichtig. Olivia heiratet wieder, doch der neue Mann entpuppt sich als Alkoholiker. So weit, so durchschnittlich wirkt der Plot.

Doch das Besondere an Linklaters Film ist, dass er bereits 2002 mit dem Dreh begann und seine DarstellerInnen jedes Jahr wieder vor der Kamera zusammenbrachte. Mason alias Ellar Coltrane wächst also tatsächlich, filmisch begleitet, vom kleinen Jungen zum Collegestudenten heran.

Wenn man sich also 164 Minuten auf diese Geschichte einlässt, bekommt man ein tiefes Gefühl für die Vergänglichkeit des eigenen Lebens, ist ergriffen, weil man im Zeitraffer dem Erwachsenwerden von Mason zusehen kann, der sich vom nachdenklichen Jungen zu einem immer noch nachdenklichen, aber passionierten Hipster mit Liebe zur Fotografie entwickelt.

Der Film funktioniert so gut, weil alle DarstellerInnen, allen voran Ellar Coltrane, so unaufgeregt und lebensnah spielen. Die Dialoge sind Alltagsgeplauder, wie man es aus seinem eigenen Leben kennt, etwa, wenn Mason mit seiner Freundin über den Sinn und Unsinn von Facebook-Profilen diskutiert.  Indem wir diese Dialoge von außen beobachten, erleben wir sie auf einer künstlerisch verfremdeten Ebene. Wir sehen Mason und den anderen beim Leben zu, was selten so fantastisch wie in diesem Film gelungen ist.

„Boyhood“ war ergreifend wie kein anderer Film auf der diesjährigen Berlinale. Deshalb hätte er den Goldenen Bären verdient.

„Bai Ri Yan Huo (Black Coal, Thin Ice)“

Bei allem Lob für „Boyhood“ darf man nicht vergessen, dass der diesjährige Gewinnerfilm aus China auch ein durchaus respektabler Film ist, gut gemachtes Genrekino, in dem man viel über den Zustand der chinesischen Gesellschaft lernt. Ein Film Noir in grellen Farben und einprägsamen Bildern ist Regisseur Diao Yinan damit gelungen. Es gibt einen abgewrackten Polizisten, eine schweigsame Femme Fatale und einige Mordfälle aufzuklären, bei denen die Opfer zerstückelt wurden. Eine solche Detektivgeschichte hat man in den Klassikern des Genres natürlich schon tausendmal besser gesehen und leider ist die Affäre absolut unerotisch und ohne besonders einprägsame Dialoge inszeniert. Insgesamt durchaus unterhaltsam, aber kein Film, der im Gedächtnis haften bleibt.

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Kreuzweg

© Alexander Sass

© Alexander Sass

Den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch konnten sich Dietrich und Anna Brüggemann für „Kreuzweg“ abholen, dem Film über die 14-jährige Maria, die nach den Regeln der streng katholischen Paulus-Bruderschaft (eine fiktive Version der Pius-Bruderschaft) leben muss. Der formal streng inszenierte Film nach den Stationen des Kreuzwegs, die Jesus durchleiden musste, übt subtil, aber nachhaltig scharfe Kritik an dieser religiösen Gemeinschaft, die indirekt für den Tod des Mädchens verantwortlich ist. Die Qualität dieses düsteren Kammerspiels basiert vor allem auf den exzellenten schauspielerischen Leistungen. So spielt etwa Franziska Weisz, die man in so einer Rolle noch nie gesehen hat, Marias fanatische Horror-Mutter schauderhaft-gut, aber auch Lea van Acken als von Schuldgefühlen gemarterter Teenager ist beeindruckend.

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