Von Raphaela Portmann
Ein blauer Fleck am Unterarm ist zuerst rot, verfärbt sich dann braun und wird schließlich stellenweise grün oder gelb – entgegen seiner Bezeichnung. Er ist druckempfindlich bis schmerzhaft und verheilt bei regelmäßigem Training nur schlecht. Das ist bei Männern und Frauen so; der blaue Fleck unterscheidet nicht zwischen den Geschlechtern. Aber die Menschen tun es.

„Wenn ich blaue Flecken habe, denken alle, ich wurde von meinem Freund verprügelt.“

Die anderen Frauen in der Umkleide stimmen zu.

Wir befinden uns in der SaSchu Ving Tsun Kung Fu Schule in Basel. Genauer gesagt in der kleinen Frauenumkleide im Keller. Hinter der Trennwand hört man die Männer lachen und über die WM diskutieren. Es ist kühl hier unten. Das muss angenehm sein nach einem schweißtreibenden Training.

Als alle sich umgezogen haben, treffen sie sich im Trainingsraum im Erdgeschoss, wo es deutlich wärmer ist. Es ist Juni und die schwüle Luft lässt die Anwesenden schon vor der ersten Bewegung schwitzen. Alle tragen schwarze Kleidung und eine farbige Schärpe um die Hüfte. Das einheitliche T-Shirt steckt in der langen Hose.

Die meisten Schüler sind männlich, aber man findet auch in fast jedem Grad eine Frau. Heute sind es derer vier. Exklusive die Lehrerin Sabine Schmutz, die von ihren SchülerInnen Sifu genannt wird.

„Ich nehme es nicht speziell wahr, dass ich eine weibliche Sifu habe. Es könnte auch ein Mann sein, ich stelle ihre Autorität nicht in Frage, weil sie eine Frau ist. Genauso wenig wie bei einem Mann. Am Anfang dachte ich ‚Wow, die hat viel Power, die setzt sich richtig gut durch!’, aber jetzt fällt es mir gar nicht mehr auf“,  erzählt einer der Jungs.

Man kann sich heute kaum noch vorstellen, dass Schmutz als Mädchen klein, zierlich und zudem schüchtern war. Mit bestimmter Stimme begrüßt sie die Runde und fordert einen fortgeschrittenen Schüler mit einem Grinsen auf, heute ein hartes Aufwärmtraining zu machen. Das folgt einige Momente später prompt, unterlegt von einem Dubstepsong. Die rhythmisch wummernden Drums geben den Takt vor, die SportlerInnen springen dazu auf der Stelle. Normal. Hampelmann. Füße versetzt.

„Zehn Kung-Fujaner“ ruft der leitende Schüler den anderen zu.Was das ist? Gerader Kick, Kniebeuge, Gerader Kick, Kniebeuge … Zehn mal. Dann runter. Zehn Liegestütze, zehn Rumpfbeugen. Aufstehen. Alles von vorne, diesmal nur noch neun, das nächste mal acht und so weiter. Geschafft!

„Habt ihr alle warm?“ fragt der Hilfstrainer. Die Antwort muss nicht ausgesprochen werden, sie ist den rund 20 verschwitzten Gesichtern anzusehen.

Auf die Frage, wie Außenstehende auf die Aussage reagieren, dass er Ving Tsun mache, sagte ein junger Mann aus der dritten Reihe: „Es kommt darauf an, ob mich Männer oder Frauen fragen, die Reaktionen sind unterschiedlich. Frauen sagen oft: ‚Cool, zeigst du mir was?’ und Männer sagen sehr häufig: ‚Ah ja, so was habe ich auch mal gemacht!’. Grundsätzlich positive Rückmeldungen: Dass sie es cool finden, toll finden, begeistert sind.“

Offiziell ist Ving Tsun auf den Kampfkünstler Yip Man zurückzuführen, aber hier im SaSchu Ving Tsun Kung Fu kann man sich auch von einigen SchülerInnen die Legende anhören, Ving Tsun sei von einer Nonne erfunden worden, um sich gegen bedrohliche Männer wehren zu können und verdanke seinen Namen ihrer ersten Schülerin, Yim Vin Tsun. Die Schärpen, die hier alle tragen, sind eine relativ neue Erfindung, für die sich nicht alle Schulen entscheiden.

Früher hatte man eine weiße Schärpe und wechselte diese nie. Aber durch die Jahre und die Erfahrung, die man in Kämpfen sammelte, wurde sie allmählich schmutziger und dadurch dunkler. Wer also eine schwarze Schärpe hatte, hat sich den Respekt anderer KampfkünstlerInnen durch jahrelanges Training verdient, erzählt Schmutz. Sie habe sich trotzdem für die Gürtel als Gradmesser entschieden, weil es so erheblich einfacher wäre, jedem im Training gerecht zu werden und die große Gruppe aufzuteilen.

Hier unterscheidet man nicht zwischen Frau und Mann, sondern orientiert sich an den Gürteln. In Einem sind sich die Schüler außerdem einig: dass es mehr individuelle als geschlechtsspezifische Unterschiede gibt.

Zwar falle es auf, dass es häufiger der Fall sei, dass Männer Frauen etwas zeigten als umgekehrt – das Stereotyp vom starken Mann – aber dieses werde spätestens durch die weibliche Sifu wieder wettgemacht. Vielleicht seien die Frauen etwas schüchterner und würden beim Kämpfen nicht so „reingehen“, sagt eine erwachsene Schülerin, aber im Endeffekt komme es extrem auf das jeweilige Gegenüber an, generalisieren könne man schlecht.

Die Faust schnellt zwischen der Deckung durch und trifft die Gegnerin im Gesicht. Diese scheint eine Sekunde zu brauchen und hält sich dann die Hand vor Mund und Nase, das gibt eine blaue Lippe. Die beiden Frauen haben, genau wie alle anderen im Dojo, als Abschluss zum heutigen Training ohne Handschuhe gekämpft; da hat eins zum anderen geführt. Dafür, dass nichts Schlimmeres passiert, sorgt Sifu Sabine Schmutz, die in diesem Moment durch den Raum geht, um sich vor ihren SchülerInnen zu positionieren. Mit lauter Stimme fordert sie diese auf sich aufzustellen und dabei breit zu stehen. Jetzt ist Zeit, Fragen zu stellen, danach steht jede/r still auf dem jeweiligen Platz. Dann bewegen sich alle auf einmal: Der eine Fuß bewegt sich zum anderen und die linke Faust legt sich in die flache Rechte.

„Chen!“ sagen alle gleichzeitig laut, wobei man ein, zwei Stimmen im Echo etwas verzögert hört. Die Sifu nickt. Damit ist das dienstägliche Training zu Ende. Um sich zu verabschieden, stellen sich alle in einer Reihe vor den Durchgang zu den Umkleiden, wo sich Schmutz und ihr Hilfstrainer aufgestellt haben. Zuhinterst stehen die Mitglieder ohne Gürtel, nach vorne verbessert sich der Grad, was an der Farbe der Schärpen zu erkennen ist: Weiß, Grün, Rot, Blau, Gelb, Schwarz.

Diese Farben kennen die meisten hier nicht nur von den farbigen Gürteln, sondern auch von der eigenen Haut. Der blaue Fleck, der de Facto eher rot, braun, grün und gelb ist, unterscheidet nicht zwischen den Geschlechtern. Ving Tsun tut dies auch nicht.