Im Zentrum der Geschichte steht eigentlich ein Toter, Toms Ex-Freund Gui. An dessen Beerdigung fährt Tom (Xavier Dolan) aufs Land bei Montréal im kanadischen Bundesstaat Québec. Auf einem abgelegenen Bauernhof trifft er dort auf Guis Mutter Agathe und seinen cholerisch-gewalttätigen Bruder Francis. Dieser macht ihm schon in der ersten Nacht mit körperlicher Nachdrücklichkeit klar, dass es die Beziehung von Tom zum toten Gui nie gegeben hat. Stattdessen weiss die Mutter von einer gewissen Sarah, mit dieser „so schönen jungen Frau“ sei Gui bis zu seinem tragischen Tod zusammen gewesen. Tom übernimmt von Francis die Aufgabe die ländlich, konservative Fassade des Familienlebens zu kitten.

Foto: Filmstill (Kool Film)

Koks im Stall

Und da gibt’s Einiges zu spachteln: Francis hat eine dunkle Vergangenheit, die sich erst im Laufe des Films den ZuschauerInnen erhellt. Und auch mit dem Leben auf der Farm ist er ziemlich unzufrieden. Auswege scheinen ihm nur der Alkohol und gelegentliche Kokain-Lines zu bieten, die er sich nach getanem Tagwerk mit Tom im Stall reinzieht. Während weitere Attacken von Francis auf Tom niederprasseln, beginnt der frühere Grafiker aus der Grossstadt Freude am Bauernleben zu gewinnen und verliebt sich gar in seinen Schinder.

Das ist etwa so glaubwürdig, wie wenn Tom am Anfang des Film mit wildem Herumfuchteln seines Telefons in dieser kanadischen Pampa Netzempfang zu finden versucht. Aber diese unmotivierte Wendung der Geschichte gibt dem Regisseur die Möglichkeit sich selbst in seinen eigenen Hipster-Klamotten weiter in Szene zu setzen. Solche Ichbesessenheit gipfelt in Szenen wie: Tom, der wie ein verschollenes Mitglied der Strokes aussieht, sitzt in Unterhose auf dem Bett, Tom putzt in violetter Samtjacke und Röhrenjeans Gülle aus dem Kuhstall und Tom flüchtet Hals über Kopf von der Farm, aber sucht erst noch eine Baseballmütze, die er für die Flucht unbedingt zu brauchen scheint.

„Kiss my ass“

Womit wir auch beim Problem dieses Films sind: Xavier Dolan. Der 25jährige franko-kanadische Regisseur übernahm bei „Sag nicht, wer du bist“ („Tom At The Farm“) Regie, Drehbuch, Schnitt, Kostüme und Hauptrolle. Das tat er schon in fast allen seinen Filmen – es ist seine Art zu arbeiten. Das kann man machen, wenn man unter den gegebenen Umständen die bestmögliche Wahl ist und es die Qualität des Films nicht schmälert. Beides klappt bei „Sag nicht, wer du bist“ nicht.

Dolan scheint grossen Spass daran zu haben sich in pathetischer Pose und Hipster-Kleidung durch vertrocknete Maisfelder rennen oder ein totes Kalb aus dem Stall tragen zu sehen. Das ist derweil visuell durchaus beeindruckend, doch bleibt damit immer nur eine Oberfläche. Auch emotional sind die Figuren so eindimensional und scheinen nur als ZuspielerInnen für eine weitere Selbstinszenierung des als „Wunderkind“ verschienen Regisseurs zu sein. Woher kommt Francis Aggressivität und warum soll sich Tom in diesen Raufbengel verlieben? Doch nicht weil dieser einsame Bauer aussieht wie ein unentdecktes Unterwäschemodel für den Quelle-Katalog.

Doch genau zu solch oberflächlichen Deutungen führt uns der Film: Dolans Figuren bleiben in einer pubertären Vorstellung von Liebe gefangen. Liebe ist hier nur Projektion, geliebt wird, wie jemand aussieht und nicht wie jemand handelt – und vor allem auch sich selbst. Wobei es dabei aus schauspielerischer Sicht für Dolan keinen Grund zur Selbstliebe gibt, er spielt fahrig und affektiert. Im Gegensatz zu Lise Roys, die Guis Mutter Agathe spielt, die aus diesem Ensemble von PappkameradInnen als einzige Figur mit Tiefe heraus sticht.

So viel Raum bleibt ihr nicht neben all der Selbstinszenierung Dolans und seinen hübschen menschlichen Accessoires. Insgeheim wünschte man sich diesen Xavier-Dolan-Film ohne ihn in der Hauptrolle. Dann liesse sich nämlich die beeindruckende Bildsprache und der coole Soundtrack ohne den fahlen Beigeschmack eines cineastischen Hipster-Selfies geniessen. Doch Dolan sieht das natürlich anders. Auf Kritik aus Amerika, die ihm das gleiche attestierte, antwortete er auf Twitter: „You can kiss my narcissitic ass.“

„Sag nicht, wer du bist“ CA/FR 2012. Regie: Xavier Dolan. Mit Xavier Dolan, Pierre-Ives Cardinal, Evelyne Brochu u.a., 105 Min., Start: 21. August