Von Timo Posselt
Der Zunftmeister fragt mich am Telefon, ob ich denn überhaupt Baslerdeutsch verstehe. Er scheint verunsichert, schließlich spreche ich nicht den gleichen Schweizer Dialekt wie er. Ich bejahe und er erklärt mir, dass alle am Zunfttreffen einen Anzug tragen werden: „Sie können dann nicht sagen, niemand hätte das Ihnen gesagt“, raunt er ins Telefon. Ich krame irgendwo in den Untiefen meines Kleiderschranks eine gelbe Plastiktüte mit einem Anzug hervor und hänge ihn ein paar Tage ins Badezimmer: An Bügeleisen fehlt es in der WG und ich habe mal gehört, dass mit dem Wasserdampf vom Duschen die Falten aus dem Stoff verschwinden sollen. Nichts da – am Samstagmorgen des Zunfttreffens ziehe ich den immer noch verknitterten „Bänker-Blaumann“ an. Schwarze Lederschuhe habe ich auch nicht und nehme stattdessen blaue Stoffschühchen. Ich hoffe schwer, meine Tarnung funktioniert.

Im Krieg gegen Croissants

Auf einem Museumsgelände im deutschen Grenzgebiet bei Basel stehen am Eingang einer großen Plastikkuppel gut 150 Männer in dunklen Anzügen und beäugen den Eindringling mit skeptischen Blicken. Alle haben sie ein Namensschild mit der Funktion angeheftet und kennen sich seit Jahren, so scheint es. Ich trete auf einen der Herren zu und er begrüßt mich, ich erkenne den Bariton des Zunftmeisters wieder. Er führt mich für Informationen zur „Zunftgeschichte“ zum ältesten Zünftler. Am Rand des Apéros schnabuliert ein steinalter Mann genüsslich ein Croissant. Die Brosamen kullern über seinen Anzug und springen ihm beim Sprechen wie hellbraune Schneeflocken aus dem Mund. Noch älter als er scheint die Zunft selbst zu sein. Irgendwann vor fast 800 Jahren im Mittelalter gegründet und heute immer noch eine „reine Männergesellschaft“.

Sehr gut, schon spricht er über mein Thema und ich frage nach. Er antwortet, das sei „halt Tradition.“ Das ist mir irgendwie zu einfach und ich lasse nicht locker. Zwischen Sprechen und der Croissant- Vertilgung nimmt der „Ur-Zunftie“ einen mächtigen Schluck aus seinem Kaffee. Er wirkt, als führe er Krieg gegen die Esswaren: Alles anwesende Essen in seinem über die Jahrzehnte geläuterten Organismus vernichtet werden. Erstmal runterschlucken, dann hebt er an: Früher seien manchmal auch Frauen „zünftig“ gewesen, und ein Spucke-Sprenkel trifft die Nadelstreifen meiner Schulter. „Wenn ihr Mann gestorben ist, hat man sie aufgenommen.“ Schließlich seien die Witwen dann die Geschäftsbesitzerinnen gewesen. Man hätte aber bald geschaut, dass gleich wieder jemand kommt, der „fähig“ sei. „Aber ich will damit nicht sagen, dass die Frauen unfähig sind.“ Ja, was denn sonst? Ich lasse den Zunft-Dino lieber allein. Schließlich ist der Krieg gegen Kaffee und Croissant noch längst nicht entschieden.

Das Gemächt des Löwen

Bald schon wird losmarschiert in Richtung des Zeremoniensaals. Vorne wummern die Pauken und ein ulkiger Fähnrich trägt einen mächtigen Banner mit einem schwarzen Löwen. Eindrucksvoller sind lediglich die Boulekugel-großen, rot leuchtenden Hoden, die am steil aufgerichteten Gemächt des Tieres prangen. In der Menge finde ich zwei milchgesichtige Burschen. Sie sind ganz frisch in der Zunft und sollen heute erst aufgenommen werden. Natürlich geht das hier nur mit großem Tamtam. Sie seien durch die Fasnacht, also den Basler Karneval, in die Zunft gekommen und der eine meint, für das „Networking“ sei das bestimmt nicht schlecht. Wir kommen in einen Saal und die Burschen müssen nach vorn. Vorn prangt wieder ein große Zunftfahne mit Löwen, doch diesmal fehlt das mächtige Skrotum. Ein aufgerichteter roter Penis darf aber nicht fehlen. Ich nehme Platz neben einem dauergrinsenden Typen mit Gel in den Haaren. Er kann kaum ruhig sitzen auf seinem Stuhl, so sehr freut er sich. Aber auf was? Ich kann der Frage nicht nachgehen, denn schon wird dem Zunftmeister „Dr. Soundso“ eine schwere goldene Kette umgehängt. Sie könnte mit ihrem überbordenden Protz auch von Flavour Flav oder 50 Cent sein. Doch gerappt wird hier nicht: Der Zeremonienmeister referiert über Stühle, also „Stiehl“, denn wir sind hier ja bei einer Basler Zunft und alles wird auf Baslerdeutsch vorgetragen. „Stiehl“ darum, weil wir uns auf dem Museumsgelände einer Stuhldesignfabrik befinden.

Beim Trinken hingerichtet

Ein paar Treppenwitze später werden die beiden Milchgesichter vorgestellt. Beide studieren sie Jura. Und schon muss der Erste ran: Ihm wird ein großer Stiefel aus Eisen in die Hände gedrückt. Er soll mit Weißwein gefüllt sein. Der Pauker trommelt in schleppendem Takt los und unser „Networker“ beginnt zu trinken. Die Schläge der Pauke werden immer schneller. Und der Zunftbruder trinkt und trinkt. Jetzt trommelt es ununterbrochen und sein Gesicht scheint in den Maß-großen Krug gesogen zu werden. Es hat etwas von einer mittelalterlichen Hinrichtung: Der Deliquent betritt das Podest, die Trommeln schlagen in bedeutungsvollem Takt, der Hals des Verbrechers wird auf den Bock gelegt, das Beil saust nieder – und zapp. Aber keiner verliert hier seinen Kopf, der wird höchstens knallrot vom fast 1.5 Liter fassenden Stiefel. Am Ende muss er seinen Krug umdrehen und mit dem Ansetzen seines Daumennagels beweisen, dass dieser leer ist. Nun ist er in die Zunft aufgenommen. In meiner Reihe wird diskutiert, wie schnell er war. Es ist von „Negativ-Rekord“ die Rede.

Lachen machen Leute

Immer wieder hört man Zwischenrufe. Sie folgen alle folgen dem gleichen Muster: Eine Anspielung aufs Trinken und dann großes Gelächter im Saal. Die 150 Männer freuen sich wie kleine Kinder auf die Trinkgaudi am Abend. Sie scheinen sich ganz ans Motto des Zeremonienmeisters zu halten: „Lieber voll heimgehen als leer ausgehen.“

Beim Zunfttreffen findet sich jede Art von Männerlachen: Da gibt es die, die wie kleine Jungs kichern. Auf hoher Tonlage und immer irgendwie verschmitzt, als hätten sie jemandem einen miesen Streich gespielt oder im Aufklärungsunterricht hätte die Lehrerin gerade das Wort „Vagina“ mit Betonung auf der ersten Silbe gesagt. Dann die Maschinengewehrlachsalven, die über die Jahre gegerbt wurden wie Leder. Sie knattern meist aus massigen Leibern, die sich in unzähligen Wirtshausstunden an Wurst, Bier und Braten abarbeiteten mussten. Hier können KennerInnen Rückschlüsse auf den Tabakkonsum ziehen, so unterschiedlich blubbert in ihren Besitzern der Schleim den Rachen hinauf und läuft kratzend wieder hinunter.

Und dann gibt es die Lachen, die stets mit einem Blick auf beide Seiten einhergehen. Sie wollen immer einladen: „Komm, lach mit, mein Freund. Wir gehören zusammen.“ Es haftet ihnen oft nur etwas unecht Herausgedrücktes an. Doch meist sind die Kumpanen der Witzereißer solidarisch und stimmen ein, so schlecht der Witz auch ist. Vorne wird jetzt auf die Skrotum-lose Fahne geschworen und draußen soll es gleich eine Führung übers Gelände geben. „Zunftbrüder“, die schlecht gehen können, sollten sich beim „Zunftpflegeteam“ melden. Das ist süß. „Man wird dann schauen, was man in der Zwischenzeit macht.“ Und wieder grölt der Saal.

Die letzte Bastion der Männer

Auf dem Gelände gerade ich an einen Oberlippen-behaarten Zunftie und mit seiner einnehmenden Art geraten wir schnell ins Gespräch. Bald kommen wir auf den Ausschluss der Frauen zu sprechen: „Das ist die letzte Bastion, wo wir noch unter uns sind“, grummelt er. Ausserdem habe das Tradition. Schon wieder diese olle Tradition. Na gut, ich brauche mich nicht zu wundern, schließlich sind die Zünfte wohl auch nicht viel mehr noch als nur Tradition. Natürlich werden hier Seilschaften geknüpft und Jobs verschafft wie in allen Vereinen. Doch von der Macht und dem Einfluss, die die Zünfte im Mittelalter hatten, spürt man kaum noch etwas. Im Mittelalter waren fast alle Handwerker (damals arbeiteten nur Männer in diesen Berufen) der mitteleuropäischen Städte in Zünften organisiert. Diese regelten ihre Arbeitszeiten, ihre Ausbildung und ihre Anzahl. Bis in 19. Jahrhundert verloren die Zünfte immer mehr an Einfluss und starben in ganz Europa aus. In ganz Europa? Nein! Ein kleines Land, bevölkert von vielen unbeugsamen „Zünftlern“, lebt die Tradition bis heute weiter. Und hat über die Jahre mächtig Kohle gescheffelt. So streicht die Zunft, die ich besuchte, jedes Jahr bis zu 20’000 Franken, also umgerechnet etwa 16’000 Euro, ein, wie mir der „Zunftaltmeister“ anfänglich erzählte. Und das sind nur die Zinsen. Allein die Veranstaltung in der Designfabrik kostet fast 10’000 Franken (8’000 Euro). Außerdem besitzen die Zünfte auch Liegenschaften, meist mitten in der Altstadt an bester Lage.

Will frau das?

Zum Gespräch mit dem „Schnauz-Zunftie“ kommt ein hochgewachsener, schlanker Mann in seinen 50igern dazu, deutet auf den jovialen Schnauzträger und sagt kumpelhaft: „Das ist eben jetzt genau so ein Reaktionärer.“ Ich solle auch mit ihm selbst reden, denn er sei für eine Öffnung der Zünfte für Frauen. Den Brillenträger haftet etwas bedächtig Akademikerhaftes an. „Man kann sich auch fragen, was schlecht daran sei, dass keine Frau dabei ist.“ Darüberhinaus gäbe es inzwischen auch Zünfte, die Frauen aufnähmen.

Die Kriterien sind aber immer noch die gleichen, auch für die Frauen: Die Auserwählten brauchen einen guten Leumund, das BürgerInnenrecht in der „Vaterstadt Basel“ und müssen von zwei „Göttis“ also Paten, betreut werden. Auf den Saufkult angesprochen, erzählt mir der Akademiker, dass zum Beispiel der „Zunftstiefel“ zur Eintrittszeremonie auf Wunsch auch mit Mineralwasser oder Apfelsaft gefüllt werden kann. Was fast 1.5 Liter Mineralwasser oder Apfelsaft im Innern der Zunftbrüder auslösen würde, möchte ich mir gar nicht erst ausmalen. Der Historiker macht dann seinem Ärger über selbstgerechte SozialwissenschaftlerInnen Luft, die sich auf der „richtigen Seite“ wähnen und alle anderen auf der „falschen“ sehen. Denn: „Ist es grundsätzlich reaktionär, dass keine Frauen dabei sind?“ Die Zünfte selbst sind sehr durchmischt und es ist schwer, sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Lediglich die kindische Freude am Saufen scheint allen gleichermaßen Identität zu stiften, und die Ausnahmen dieser Regel dabei bleiben stumm.

Nach der Führung zotteln die „zünftigen“ Männer zum Mittagessen ab und ich mache mich vom Acker. An der Bushaltestelle unterhält sich eine deutsche Reisegruppe über die „Zunfties“, die gerade mit wehenden Fahnen, Flöten und Tambouren zum Restaurant ziehen. „Idiotisch“, findet das Schauspiel einer der BildungsbürgerInnen.

Nach einem Morgen mit der Zunft bleibt die Frage, die sich bei allen Männerbastionen wie beispielsweise beim Militär oder katholischen Kirche stellt: Will frau da überhaupt mitmachen? Auch wenn sich die Frage für mich mit meinem Dialekt und Geschlecht gar nicht erst stellt, entschieden habe ich mich längst.