Von Sarah Kleinmann.
Nina trägt einen dunklen Pullover und eine Mütze, ihre klugen Augen begleiten aufmerksam unser Gespräch. Wir sitzen am Küchentisch von Ninas WG in einer süddeutschen Universitätsstadt, es gibt veganen Bienenstich und Kaffee. Nina analysiert die vergangenen sechs Monate ihres Lebens, und manchmal, wenn sie von Erfahrungen berichtet, die schmerzhaft waren, lacht sie kurz auf. Nina wirkt stark. Im vergangenen September wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert.

Die Chemo läuft, in Hintergrund die Infusionspumpe. (Foto: privat)

Nina ist 30 Jahre alt und bis zur Diagnose lebte sie, wie sie selbst augenzwinkernd sagt, „ihr adoleszentes Leben mit vollem Genuss.“ Als Bassistin einer Band, als häufiger Gast auf Hardcore-Konzerten. Nina mag vegane Torten, versteht sich als Feministin, engagiert sich gegen Nazis und hat Angst vor Injektionsnadeln. Ihr Studium der Archäologie steht kurz vor dem Bachelor-Abschluss.

Und dann ändert sich alles

Bis zur Krebsdiagnose und der anschließenden Krankschreibung finanzierte Nina ihr Leben und Studium mit Honorarverträgen und einem Minijob. Seit Nina erkrankt ist, in dem vergangenen Jahr also, hat sich ihre Welt in vielerlei Hinsicht verändert. Einerseits wird Nina durch einen großen Kreis an Freundinnen und Freunden umfassend unterstützt. Siebzehn Personen haben sie nach der Entfernung des Tumors im Krankenhaus besucht. Nina freut sich darüber, ärgert sich aber über einzelne Aussagen: „Es gab so dummes esoterisches Geschwätz, das alles einen Sinn hat. Dabei tut es wirklich niemandem gut, so krank zu werden.“

Das private Unterstützungsnetzwerk hilft Nina dabei, die zahlreichen Untersuchungen, Behandlungen und die Chemotherapie zu bewältigen, es spendet ihr Zuversicht. Und sie kann über ihre Situation mit Menschen reden, was ihr sehr hilft. Vor allem Ninas Freund Kerem, ihre Mitbewohnerin Anja und ihre beste Freundin Sam stehen ihr zur Seite: „Nie war ich bislang bei Terminen allein, immer hat mich jemand von den dreien begleitet. Sie haben für mich eingekauft und gekocht, Briefe für mich geschrieben und mir die Hand gehalten und mich getröstet. Ohne die drei – ich weiß auch nicht.“

Expertin in eigener Sache

Andererseits muss Nina mit großem zeitlichem Aufwand ihre soziale Absicherung organisieren, was eine zusätzliche Kraftanstrengung und Belastung darstellt. Nina muss nun auch noch Expertin in eigener Sache sein, sich optimal selbst verwalten. Kranksein als Vollzeitjob.

Wie viele andere Krebspatientinnen hatte sie den Knoten selbst entdeckt. Im Juli 2013 war noch bei der Tastuntersuchung der Brüste im Rahmen der Krebsvorsorge alles in Ordnung. Eine Ultraschalluntersuchung gibt es bei dem Termin nicht, da die Praxis keine EC-Karten akzeptiert und Nina nicht genug Bargeld dabei hat, um die Kosten in Höhe von 80 Euro sofort zu begleichen.

Etwa eineinhalb Monate nach diesem Vorsorgetermin, Anfang September, ertastet Nina unter der Dusche beim Waschen der Achselhöhlen einen etwa 2 Zentimeter großen Tumor in der rechten Brust: „Er fühlte sich ganz weich an, wie ein großer Kaugummi. Ich war zu Tode erschrocken.“ Es ist Freitagnachmittag und ihre Gynäkologin im Urlaub. Also wendet sich Nina erst am folgenden Montag an eine Vertretungsärztin. Die führt eine Tast- und Ultraschalluntersuchung durch und sagt, sie gehe von einem gutartigen Tumor aus. Zu Absicherung des Befundes wird zwei Wochen später per Stanzbiopsie noch eine Gewebeprobe entnommen.

Ende September ruft die Gynäkologin mittags auf Ninas Handy an. Nina war gerade mit ihrem Freund auf einer Fortbildung: „Ich bin zum Telefonieren aus dem Raum gegangen. Die Ärztin klang betroffen und sagte mir, die Gewebeprobe habe ergeben, dass ich Krebs habe. Sie bot mir an, noch am selben Abend in die Praxis zu kommen, um weitere Schritte zu besprechen.“ Nach dem Telefonat kann Nina nicht sofort sprechen. Sie geht zurück in den Seminarraum, erzählt ihrem Freund erst in der nächsten Pause von dem Befund. Abends besprechen die beiden eineinhalb Stunden lang mit der Ärztin das weitere Vorgehen. Danach fahren die beiden zu Ninas Eltern, um sie zu informieren. Nina sagt dazu: „Meine Eltern dachten zuerst, ich bin schwanger, weil ich sonst nie mit meinem Freund zu ihnen komme.“

„Die Leute schauen Dir sofort auf die Brüste“

In den folgenden Tagen muss Nina ihr Umfeld informieren – FreundInnen, ArbeitgeberInnen, die Universität. Nina sagt: „Aus dem Nichts mit so etwas zu kommen, das war schlimm, das war schwer. Die Leute schauen Dir außerdem sofort auf die Brüste. Mit Männern darüber zu sprechen, war deshalb zusätzlich unangenehm. Ich habe mich zudem gefragt, wie meine berufliche Zukunft als Wissenschaftlerin nun aussieht. Als Frau wird dir in der Archäologie ohnehin weniger zugetraut.“

In den folgenden Wochen wird Nina operiert, der Tumor entfernt, die erste Chemotherapie beginnt. Außerdem unterzieht sie sich einem Gentest. Nina hatte sich trotz Skepsis zu diesem Schritt entschieden, um nichts unversucht zu lassen. Dabei kommt heraus, dass die Wahrscheinlichkeit bei 80 Prozent liegt, dass Nina nochmals an Brustkrebs, und bei 60 Prozent, dass sie an Eierstockkrebs erkranken wird. Deshalb entscheidet sie sich für eine Mastektomie, eine Abnahme der Brüste. Prominentestes Beispiel für diesen Eingriff ist Angelina Jolie.

„Ich war noch nie ein ‚Mädchen‘, ich war immer die, die bei archäologischen Ausgrabungen Schubkarren schiebt. Ich schminke mich nicht, ich trage keine Röcke. Über Genderthemen kann ich stundenlang leidenschaftlich diskutieren.“ Jetzt muss sich Nina mit der Frage auseinandersetzen, wie wichtig ihr ihre Brüste sind, ob sie sie abnehmen lassen will und welche Brustprothesen oder Möglichkeiten des Brustwiederaufbaus es gibt. Sie muss entscheiden, ob sie sich die Möglichkeit erhalten will, irgendwann Kinder zu bekommen. Eine Schwangerschaft wäre nur noch in der Altersspanne von 35 bis 40 Jahren möglich, da Nina die nächsten fünf Jahre Medikamente zur Hormonreduzierung nehmen bzw. die Phase der Heilungsbewährung bestehen muss, spätestens aber mit 40 Jahren die Eierstöcke entnommen werden sollten. All das gehört dazu. Und auch ein Schminkkurs für Krebspatientinnen, der vor allem dabei helfen soll, sich vor aufdringlichen Fragen der Umwelt zu schützen.

Mit der Krankheit kommt die „Ämterebene“

Seit dem Tag des Krebsbefundes ist Nina krankgeschrieben und erwerbsunfähig. „Die Ämterebene“, wie Nina seufzend sagt, wird in Gang gesetzt. Nach der Krankschreibung weiß Nina zunächst nicht, wovon sie leben soll. Unter anderem muss sie monatlich 280 Euro für die Miete aufbringen. Sie beginnt zu recherchieren und findet heraus, dass die studentische Kranken-und Pflegeversicherung kein Krankengeld enthält. Das bedeutet, dass sich nach Ende der Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber des Minijobs keine Folgefinanzierung anschließt. Um Arbeitslosengeld II, also Hartz IV, zu erhalten, müsste Nina sich an der Universität beurlauben oder exmatrikulieren lassen.

Beim Sozialamt der Universitätsstadt stellt Nina also einen Antrag auf Wohngeld und einen Antrag auf Hilfe zum Lebensunterhalt, um wenigstens eine der beiden Leistungen zu erhalten. Die zuständige Sachbearbeiterin ist zwar zuversichtlich, meint jedoch, dass sie zuerst mit der Sachgebietsleitung über Ninas Fall sprechen müsse. Nach mehrwöchiger Wartezeit erhält Nina schließlich eine telefonische Absage. Begründung: Studierenden stehe keine Hilfe nach SGB XII zu.

Nina kann es nicht fassen: „Eine Absage am Telefon geht erstens gar nicht, denn ohne schriftlichen Bescheid kann man keinen Widerspruch einlegen. Und zweitens ist es tatsächlich voll schwierig, als Studentin nach SGB XII Unterstützung zu bekommen, aber das Sozialamt hat Ermessensspielraum. Ich bin eigentlich ein mustergültiges Beispiel für einen Härtefall. In der Absage hätte begründet werden müssen, warum sie den Ermessensspielraum nicht zu meinen Gunsten auslegen.“

Nina schaltet den Landesbehindertenbeauftragten ein. Daraufhin kommt es Anfang Februar, vier Monate nach dem Krebsfund, in denen Nina nicht wusste, wovon sie leben soll, zu einer Anhörung. Bis Ende Februar 2014 hat Nina immer noch nichts schriftlich vorliegen. Nina will nun mit einer Anwältin ihrer Gewerkschaft die Hilfe zum Lebensunterhalt erstreiten. Der Wohngeldantrag wird schließlich im April 2014 positiv beschieden.

Die Krankenkasse wartet ab

Streiten muss Nina auch mit ihrer Krankenkasse, denn diese erkennt zunächst ihren Status als chronisch Erkrankte nicht an. Obwohl aufgrund des zu erwartenden Erkrankungsverlaufes prognostizierbar ist, dass Nina auch in einem Jahr noch krank sein würde, pocht die Krankenkasse darauf, den Status erst nach Ablauf der formalen Jahresfrist anzuerkennen und Nina erst dann von Zuzahlungen zu Medikamenten und Krankenhausaufenthalten zu befreien. Erst nachdem Nina mit Nachdruck interveniert, erkennt die Krankenkasse den Status mittlerweile an. Auch auf ihren Behindertenausweis wartet Nina monatelang vergebens, obwohl sie ihn bereits im Oktober 2013 beim Landratsamt beantragt hatte. Sie bekommt ihn im März 2014.

„So ein Brustkrebs will organisiert werden.“ Nina schluckt und ergänzt: „Du musst jedem Scheiß hinterherrennen, nichts funktioniert von allein. Und obwohl ich mich rechtzeitig und korrekt um alles gekümmert habe, muss ich trotzdem auf so Vieles warten. Behördlich, staatlich läuft alles komplett schief.“ Nina geht also nicht nur ins Krankenhaus und zu ihrer Gynäkologin, in die Physiotherapie und zum ärztlich empfohlenen Yoga. Sie hat auch mehrere Termine beim Sozialamt und der Krankenkasse, hat telefoniert mit der GEW, dem Landratsamt, dem Landesbehindertenbeauftragten, dem Studentenwerk und dem Sozialdienst des Krankenhauses, sie muss Schreiben aufsetzen, ihre Rechte und Möglichkeiten recherchieren und um ihr finanzielles Auskommen bangen.

Momentan erhält Nina jeden Monat etwas Geld von ihren Eltern; außerdem bekommt sie für zehn Monate eine geringfügige finanzielle Unterstützung durch die Krebshilfe Baden-Württemberg und hat eine einmalige Zuwendung bei Brustkrebs e.V. und der Deutschen Krebshilfe beantragt.

Im Oktober 2013 erreichte Nina die Diagnose. Laut ihrer Ärztin sind ihre Heilungschancen gut, Nina hat schnell genug gehandelt. Trotzdem bleibt ihr Fazit bitter: „So ein Jahr krank zu sein, muss man sich erst mal leisten können.“ Nina ist wütend.