Von Hengameh Yaghoobifarah

Es war der Morgen des 15. November, als die 22-jährige Lehramtsstudentin Tuğçe Albayrak vor den Toiletten eines Offenbacher Fastfood-Restaurants eine gewaltvolle Auseinandersetzung zwischen drei Typen und zwei Mädchen beobachtete. Sie intervenierte und die angespannte Situation löste sich mit Hilfe anderer Gäste auf. Was genau da eigentlich los war, ist bis heute unklar. In den deutschsprachigen Medien wird eine klare Beschreibung umgangen, zumal zwei wichtige Zeuginnen nicht ausgesagt haben.

Englischsprachige Berichterstattungen erzählen von einem sexuellen Übergriff auf die jungen Frauen. Fest steht: Auf dem Weg zu ihrem Auto wurde Tuğçe von einem der Täter bewusstlos geschlagen, ihr Kopf prallte gegen den harten Parkplatzboden auf und letztlich starb sie vergangene Woche an den Verletzungen.

Nicht nur vor Ort ist die Betroffenheit groß, es werden deutschlandweit Mahnwachen abgehalten. Tuğçe wird aufgrund ihrer Zivilcourage zur Heldin. Derzeit wird aufgrund tausender Forderungen auch die Verleihung eines Bundesverdienstkreuzes geprüft. Respekt ist das Mindeste, was Tuğçe verdient hat.

In der Auseinandersetzung mit ihrem Tod werden auch wieder Debatten um das Thema Zivilcourage angestoßen. Ein altbekannter Mangel in vielen gesellschaftlichen Kontexten. Aber ich frage mich: Wer von all denen, die derzeit so laut um Tuğçe trauern, würde bei öffentlichen Übergriffen selbst handeln?

Erst kürzlich fand in einem Stockholmer Aufzug ein soziales Experiment statt, bei dem ein junges, vermeintlich heterosexuelles Paar sich lautstark streitet und auf Reaktionen mitfahrender Passant_innen hofft. Der Typ wird laut und übergriffig, sie fühlt sich offensichtlich unwohl in der Situation und ruft sogar um Hilfe. Von 54 Personen interveniert gerade mal eine, die anderen ignorieren die Situation getrost oder verhalten sich anderweitig unbeteiligt.

Oft schreiten Menschen in Gefahrensituationen nicht ein, weil sie Angst vor der Auseinandersetzung haben. Dabei sind Eingriffe in – wenn auch nur scheinbar – gewaltvolle Auseinandersetzungen nicht immer mit Gefahr verbunden. Diese sechs Vorgehensmöglichkeiten zeigen auf, dass Aufmerksamkeit und Unterstützung vor allem von Hilfsbereitschaft abhängen. Interventionen können verbal passieren und Situationen entschärfen.

Zum Beispiel sind weiße Personen nicht machtlos, wenn in der vollen Straßenbahn nach Racial Profiling kontrolliert wird. Der Dialog mit den Kontrollierenden und die damit verbundene Thematisierung der rassistischen Praxis können die Problematik stärker sichtbar machen. Das Infragestellen von Tür- und Ladenpolitiken, das Ansprechen umherstehender Unbeteiligter, das Informieren von zuständigem Personal – all das sind mögliche Handlungen.

Das Nichteinschreiten normalisiert die Duldung oder auch die Verharmlosung von Gewalt, welche nicht selten -istisch motiviert ist – sexistisch, rassistisch, ableistisch oder auch homophob. Das Mindeste, das Tuğçe von uns verdient, ist nicht nur Respekt, sondern auch das Überdenken eigener Handlungen, die Erhöhung einer allgemeinen Aufmerksamkeit und den Mut, selbst zu intervenieren.