Wenn ich gefragt werde, „was Feminismus für mich persönlich ist“ – eine Frage, der ich übrigens zunehmend kritisch gegenüber stehe, aber das ist eine andere Geschichte – dann antworte ich meistens, dass meine feministische Praxis sehr oft daraus besteht, zu Schweigen und Zuzuhören. Anderen Frauen, Women of Color, Sexarbeiter*innen, Frauen mit Behinderungen zum Beispiel.

Als Spitzenschülerin, forsche und eloquente Person mit vielen verschiedenen Interessen, ging ich lange Zeit mit der Vorstellung durchs Leben, ich wüsste eh (fast) alles (besser) und sei bestens informiert. Ich bildete mir viel auf meinen „kritischen“ Verstand und meine rhetorischen Fähigkeiten ein. Ich hatte allerhand Meinungen, naturgemäß, und verteidigte diese hitzig in Diskussionen. Vieles davon änderte sich durch mein feministisches Engagement.

Ich lernte, dass ich trotz aller meiner Bemühungen, trotz der Tatsache, dass ich „es gut meinte“, Fehler machte, wichtige Aspekte überging und vor allem: sehr, sehr viel einfach nicht wusste. Ich lernte, meine Klappe zu halten und bei Themen, mit denen ich mich noch nicht zu genüge beschäftigt hatte, erst zuzuhören, bevor ich mir eine Meinung bildete.

© Tine Fetz
Zuhören bildet! © Tine Fetz

Das klingt vielleicht einfach. Aber meiner Erfahrung nach ist das eine Praxis, die nicht weit verbreitet ist. In Auseinandersetzungen auf Social Media oder auch beim Zusammensitzen in größeren Runden etwa beobachte ich immer wieder, dass Menschen, die mit Neuem konfrontiert werden, nicht lernen, sondern überzeugt werden wollen. Es scheint, als müsste Bildung und Wissenserweiterung immer über Konflikt und insbesondere durch die Wiederholung der eigenen vorgefertigten Sichtweisen laufen. Viele Feminist_innen kennen die Situation, mit weniger informierten Menschen oft ermüdend lang diskutieren zu müssen.

Den Grund für diese Kommunikationsmuster sehe ich in gewissen Unterrichtspraktiken. In der Schule wird nämlich die sogenannte „Mitarbeit“, die sich primär mündlich manifestieren soll, forciert und belohnt. Die Autorin Chimamanda Ngozi Adichie schreibt in ihrem großartigen Roman „Americanah“ dazu:

[…] she was uncomfortable with what the professors called „participation” and did not see why it should be part of the final grade; it merely made students talk and talk, class time wasted on obvious words, hollow words, sometimes meaningless words. It had to be that Americans were taught, from elementary school, to always say something in class, no matter what. And so she sat stiff-tongued, surrounded by students who were all folded easily on their seats, all flush with knowledge, not of the subject of the classes, but of how to be in the classes. They never said „I don’t know“.

Genauso verhält es sich in mitteleuropäischen Schulen. Gelernt werden nicht Argumente, sondern „das Argumentieren“. Wenn ein neues Thema – zum Beispiel die Klassiker Drogen, Mobbing oder Umweltschutz – im Sprachenunterricht angerissen wird, dann gibt’s zuerst einmal eine Runde mit der Frage: „Was haltet ihr eigentlich davon?“ Vor dem Inhalt wird also die Auseinandersetzung mit dem Inhalt vermittelt beziehungsweise geübt.

Das Argumentieren wird als Fertigkeit, als „skill“ vom Argument befreit, denn es ist nicht wichtig, was gesagt wird, sondern dass irgendetwas gesagt wird. Davon zeugen auch Hausarbeiten mit der Angabe, zu einem bestimmten Text oder einem Thema Pros und Contras aufzuzählen, was dann zu Kafka-Rezensionen wie „unrealistisch und unlogische Handlung, diese Verwandlung in einen Käfer“ führt.

Oft verfolgt gerade (Fremd-)Sprachenunterricht im Umgang mit Inhalten in Wirklichkeit das Ziel, irgendwelche grammatikalischen Regeln einzuüben. So soll eins dadurch, dass eins im Klassenraum auf gebrochenem Französisch die eigene Meinung über Schuluniformen, Todesstrafe oder Sterbehilfe kundtut, vielleicht eigentlich den subjonctif pauken.

Solche Unterrichtspraktiken führen dazu, dass Menschen heranerzogen werden, die meinen, zu allem etwas zu sagen zu haben. Vor der eigenen Meinung steht nicht zunächst ein Unwissen oder eine Meinungslosigkeit, sondern eine andere, alte, verworfene Meinung – meist das Vorurteil, das Ressentiment, der -ismus. So gestalteter „interaktiver“ Unterricht verfestigt die (falsche) Vorstellung, dass jede_r zu allem etwas zu sagen hat und haben soll.

So er schlecht gemacht ist (was leider meist der Fall ist), ist Unterricht in dieser Form ein Machterhaltungsinstrument. Dass auch die Äußerung problematischer Haltung in der Schule belohnt wird, spielt auch der aktuell schiefen Meinungsfreiheitsdebatte zu. Meinungsfreiheit heißt nämlich auch, was oft vergessen wird, das Recht zu haben – oder vielleicht bei Uninformiertheit die Pflicht – von Meinung frei zu bleiben.

Daher plädiere ich, sich im Sinne emanzipatorischer Praxis manchmal auch etwas ganz Radikales zu tun: Trauen wir uns zu Schweigen. Und zuzuhören.