Von Rasha Abbas

Meine Computerspielsucht von Kindesbeinen an machte meinen Eltern viel zu schaffen. Dabei hatte unser Vater zuerst nichts dagegen, wenn wir ein bisschen Zeit mit Spielen verbrachten. Erstens, weil das erste Spiel, dass wir auf den PC geladen hatten, „Prince of Persia“ war, was einen nicht gerade dazu einlud, viel Zeit damit zu verbringen, weswegen mein Vater sich anfangs der Illusion hingab, wir hätten keine genetische Veranlagung zur Computerspielsucht – was sich später als ein grober Irrtum entpuppte.

Zweitens hatte man, um unsere Spielzeit zu kontrollieren, ein Passwort für den Computer eingerichtet. Bald jedoch war auch dieser zweite Grund hinfällig geworden, da wir das Passwort herausfanden: Es war der Name meines kleinen Bruders und die allererste Option, die ich ausprobiert hatte. (Ich bin die mittlere Tochter, meinen Namen hätten unsere Eltern sicherlich nicht als Passwort gewählt.)

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Zocken like it’s 1991. Dieser Junge versucht sich an dem Spiel „Turrican“. © Wikimedia Commons / Arpingstone / Gemeinfrei

Als dann die biegsamen Floppy Disks nach und nach ausstarben und wir Windows installierten, mussten wir uns endlich nicht mehr mit dem komplizierten DOS herumschlagen. Die neuen Spiele nahmen wir mit einer dermaßenen Leidenschaft auf, so mächtig, dass unsere Eltern nicht mehr dagegen ankamen. Sie kapitulierten und hofften, wir würden wenigstens durch die Spiele ordentlich Englisch lernen.

Doch ihr anfänglicher Gleichmut machte schon bald der Sorge um uns Platz, nachdem mein kleiner Bruder einmal meinen Vater herbeigerufen hatte, um ihm zu zeigen, wie wir es geschafft hatten, in „Leisure Suit Larry“ einem Mädchen das Oberteil vom Körper zu reißen.

Eigentlich hatten meine Eltern gar nicht so falsch gelegen: Durch die PC-Spiele lernten wir wirklich Englisch, außerdem vermittelten sie uns wichtige moralische Tugenden und vieles mehr. Bei „Doom“ zum Beispiel lernten wir, dass man unmöglich gewinnen kann, außer man ist im Besitz geheimer Cheatcodes, die es einem ermöglichen, im Spiel zu tricksen, und selbst dann ist es eigentlich kaum zu schaffen.

Die Adventure-Reihe King’s Quest lehrte uns, jedem Gegenstand, der auch nur ansatzweise schön oder nützlich aussieht, zu misstrauen. Bei „Prince of Persia“ lernten wir, mit Enttäuschungen umzugehen und die Lösung unserer Probleme einzig und allein dem Schicksal in die Hand zu geben. „Leisure Suit Larry“ hingegen lehrte uns … Also bestimmt nur Gutes, daran besteht erst mal kein Zweifel … Na gut, vielleicht haben wir auch gar nichts gelernt. Es machte aber trotzdem großen Spaß.

Später habe ich entdeckt, dass ich durch meine Computerspielsucht mit einer Art Immunität gegenüber den Unglücken des echten Lebens gesegnet bin, die mich befähigt, alles einfach wie ein Adventure Game zu betrachten.

Als ich beispielsweise zum ersten Mal nach New York flog, hatte ich im Vorfeld mit einem Akupunkturisten, der nach Feierabend seine Praxis für wenig Geld als Übernachtungsplatz vermietete, Kontakt aufgenommen. In New York angekommen war mein Handy plötzlich tot und der Akku meines Laptops leer. In einem Café aufladen konnte ich es auch nicht, da ich vergessen hatte, mir einen Reiseadapter für amerikanische Steckdosen zu besorgen. Außerdem war der Zettel, auf den ich mir die Adresse der Akupunkturpraxis notiert hatte, mit einem Mal verschwunden.

© Rasha Abbas Rasha Abbas (Foto: privat) ist eine syrische Journalistin und Autorin. Sie lebt derzeit in Berlin. In ihren Kurzgeschichten trifft der Alltagstrott auf Absurdistan. Sie verwebt die stinknormalen Erfahrungen des Einlebens in Berlin beim Asylantrag, im Jobcenter, beim Sprachkurs, zwischen Künstler-Inflation und Hipster-Invasion gekonnt mit anderen Genres: Slapstick, Zombiefilm, Cartoon, Computerspiel. Bewaffnet mit einer Narrenkappe erzählt sie die Wahrheit über „uns Deutsche“, aber auch über „die Flüchtlinge“. Ihr Kurzgeschichten-Band „Die Erfindung der deutschen Grammatik ist“ ist im Berliner Verlag Mikrotext als ebook erschienen und ist demnächst auch gedruckt über den Orlanda Verlag erhältlich.

Als ich den Mann schließlich vom Handy eines Mädchens auf der Straße anrief, legte er sofort auf. Ich dachte, ich sei einem Betrüger auf den Leim gegangen, denn ich hatte ihm die Miete im Voraus überwiesen. Eine Freundin, der ich später die Geschichte erzählte, fragte mich, wie ich in jener Nacht allein in einer Stadt, in der ich niemanden kannte, meine Nerven bewahrt hätte, bis ich es nach einer Reihe von Abenteuern endlich doch zu jener Adresse schaffte, wo sich herausstellte, dass der ehrliche Mann die ganze Zeit vor dem Gebäude auf mich gewartet und nur deswegen sofort aufgelegt hatte, da er kein Wort Englisch sprach.

Ich sagte meiner Freundin, dass ich nicht den leisesten Hauch von Panik verspürt hatte. Alles, woran ich denken konnte, war, dass ich gerade „New York“ spielte, bei mittlerem Schwierigkeitsgrad. Denn hätte ich auf einer schwereren Stufe gespielt, dann hätte ich auch noch ausgeraubt werden und mich ohne Geld verlaufen müssen.

Bei meiner ersten Berührung mit Behördengängen in Deutschland schaltete sich bei mir sofort wieder der Computerspiel-Modus ein, der mir eine große Widerstandskraft gegen Verzweiflung gibt. In jeder Phase meines Asylantrags ging ich mit den geforderten Dokumenten um, als seien sie Aufgaben, die ich zu lösen hätte, um ins jeweils nächste Level zu kommen.

Manchmal kam mir das Ganze wie eines dieser Adventure Games vor, bei denen man erfinderisch sein muss, um knifflige Rätsel zu lösen, indem man zum Beispiel mit besonders vielen Personen spricht und nach Hilfselementen sucht. Mein gesamter Computerspielerfahrungsschatz war jetzt gefordert. Besonders an jener Stelle, die wie ein geschlossener Kreislauf scheint: Du musst eine Unterlage vorweisen, für die du aber erst eine andere Unterlage brauchst, doch um jene zweite Unterlage zu erhalten, musst du die erste vorzeigen. Dass die Situation in Deutschland auf mich immer wie ein mittlerer Schwierigkeitsgrad wirkte, lag an der Tatsache, dass ich kein Deutsch spreche.

In allen Computerspielen gibt es Hilfselemente, die man erst einmal in der Spiellandschaft entdecken muss, damit sie einem dann beim Weiterkommen behilflich sein können – wie die quadratischen Blöcke bei „Supermario“ mit dem Fragezeichen darauf, in denen sich ein Pilz versteckt, der einen bewaffnet oder wachsen lässt. Oder wie die Schreibmaschinen, die man in den ersten Teilen von „Resident Evil“ in entlegenen Winkeln des Hauses findet, mit denen man seinen Fortschritt speichern kann, da man sonst jedes Mal, wenn man stirbt, wieder ganz von vorne anfangen müsste.

Im Fall der deutschen Behördengänge waren solche Hilfselemente deutsche Freunde und Freundinnen, die einen Teil ihrer Zeit spendeten, um Leute wie mich zu Behörden zu begleiten und vor Ort zu dolmetschen, aber auch die raren Begegnungen mit Beamten, die des Englischen mächtig waren, was mich in eine Freude versetzte, die der ähnelte, wenn ich bei „Doom“ eine Bazookah fand.

© Flickr / Myrmi / CC BY-SA 2.0
Gute Freundinnen und Freunde sind wie die quadratischen Blöcke bei „Super Mario“. ©Flickr / Myrmi / CC BY-SA 2.0

Die freudigste Überraschung ist es jedoch, wenn man an einen Beamten oder eine Beamtin gerät, der oder die zwar kein Englisch spricht, aber zumindest so viel Sinn für Humor zu haben scheint, sich mit dir in Zeichensprache zu verständigen, und dir die notwendigen Papiere dann einfach aushändigt.

Doch all das betraf nur die ersten Levels. Das wirklich schwierige Level, auch „Monsterlevel“ genannt, kam in der Zeit, als ich mich beim Jobcenter anmeldete. Dafür musste ich mehrere Male in Begleitung einer deutschen Freundin (oder einer syrischen, die Deutsch spricht) zum Jobcenter gehen, doch jedes Mal kehrten wir unverrichteter Dinge zurück, da wieder irgendeine Unterlage fehlte, beziehungsweise dem Beamten plötzlich eine völlig neue Unterlage eingefallen war, die wir hätten mitbringen müssen. Nach und nach hatte ich alles beisammen.

Ich war hochmotiviert und zuversichtlich, auch dieses Level zu lösen: Diesmal stützte ich mich nicht auf die Hilfe von Freunden, sondern engagierte einen professionellen Dolmetscher, der tagein, tagaus damit verbringt, zu den unterschiedlichen Abteilungen des Jobcenters zu gehen.

Er kannte sich bis ins kleinste Detail mit jedem Gesetz und jedem Papier aus. Vom ersten Augenblick an wirkte der Dolmetscher höchstprofessionell. Er hatte ein äußerst souveränes Auftreten. Bevor wir das Büro betraten, fragte er mich knapp, was ich genau brauchte. Dann nahm er den Ordner mit meinen Unterlagen und ordnete sie flink noch einmal neu. Schließlich gingen wir ins Büro. Das Gespräch mit dem Beamten übernahm er, wobei er sogar auf an mich gerichtete Fragen von sich aus antwortete, ohne bei mir nachzufragen.

Innerhalb weniger Minuten waren wir fertig. Siegreich verließen wir das Büro. Ich konnte es kaum glauben. Der Übersetzer heißt Saleh. Danke, lieber Saleh! Wirklich, du bist besser als der Make-Happy-Cheat in den „Sims“!