Von Moshtari Hilal

Als freischaffende Künstlerin und Illustratorin würde ich gerne über Porträts und Gesichter sprechen und was sie mit dem Thema Identität gemein haben. Als rassifizierter Mensch muss ich allerdings erst einmal klären, wie Begriffe wie Identität auch im Bezug auf meine Person verstanden werden müssen. Wenn ich Aufmerksamkeit erfahre oder jemand Interesse an meiner Arbeit ausdrückt, dann muss ich meine Existenz erkären und beweisen. Ich muss bevor ich über meine Arbeit oder Stilmittel sprechen kann, vermeintliche Paradoxien oder Wunder in meiner Biografie erklären. Auf Fragen antworten, wie ich trotz Fluchterfahrung ein kreativer Mensch geworden bin oder was meine Eltern wohl für Muslime seien, weil ich doch so aufgeschlossen und aufgeklärt wirke. Oder wie ich dieses oder jenes bewerkstellige als Muslimin oder Afghanin. Einmal wurde ich sogar von einer wildfremden Person bemitleidet für meine Herkunft.

Moshtari lebt, arbeitet, zeichnet und studiert in Hamburg. © Elif Kücük
Moshtari Hilal lebt, arbeitet und studiert in Hamburg. © Elif Kücük

Ich werde mit jeder neuen Begegnung konfrontiert mit den Vorurteilen meines Gegenübers und erfahre dabei mehr über sie als dass ich über mich erzählen kann. Immer bin ich die Spannende, selten oder exotisch. So interessant aufgrund meiner bloßen Existenz, dass sogar ich statt meiner Arbeit in einem Museum ausgestellt wurde, wie im Museum für Völkerkunde in Hamburg im Rahmen der Fotografie-Ausstellung zu Künstlern im Exil. Die Tatsache, dass Passbild-ähnliche Fotografien von uns, aber nicht unsere Arbeit ausgestellt wurde, ist eine ungewollt ehrliche Metapher für unsere Daseinsberechtigung als rassifizierte Menschen.

Dabei sind wir weder so einzigartig, noch exotisch, um ausgestellt zu werden. Unsere Geschichten wirken nur so originell, weil sie zu selten erzählt werden oder nicht in ihrer ganzen Vielfalt. Es braucht einen Anlass, ein ausschließlich nicht-weißes Thema, damit eine nicht-weiße Person zu Wort kommt oder sichtbar wird. Und dann ist nur von Interesse, was an ihm anders sei oder spezifisch muslimisch oder afghanisch, wie in meinem Fall. Man wird gefragt, wie man es geschafft hat, diese zwei Kulturen in seiner Identität zu vereinen oder es ist von einem kulturellen Spagat oder Stühlen die Rede. Daher möchte ich gleich zu Beginn mit diesen reduktiven Bildern brechen und eines versichern, ich bin nicht weniger komplex als Sie es für sich beanspruchen und keine Ausnahme unter den „Ausländern“ oder anderen konstruierten Gruppen, denen Sie mich auf den ersten Blick zuordnen würden.

Wie wir Menschen begreifen, hat ganz viel mit unserem Verständnis des Identitätsbegriffes zu tun. Die gängige Auffassung von Identität oder Kultur ist eine, der wir, da bin ich mir sehr sicher, viele Konflikte und Missverständnisse zu verdanken haben. Wir begreifen sie als etwas Statisches, rein Soziales oder rein Kulturelles. Dabei ist Identität vielschichtiger und etwas sich stets Wandelndes, das einer Dynamik unterliegt, einer ungreifbaren und unberechenbaren Dynamik, wie das Leben selbst.

Die reale Identität jenseits unserer kläglichen Definitionsversuche funktioniert nicht innerhalb von dichotomen Konzepten wie Mann/Frau, deutsch/nicht-deutsch, arm/reich oder privat/politisch. Und trotzdem bedienen wir uns immerfort dieser Kategorien, so nutzlos sie sind, versuchen unser Gegenüber zu begreifen, mit unserer vermeintlichen Identität abzugleichen und Reaktionen wie Interesse, Desinteresse, Abgneigung, Symptahie oder Empathie zu erzeugen. Wir brauchen diese Begegnung mit dem Gegenüber, dem Fremden, um uns als das Eigene zu begreifen und abzugrenzen. Wenn wir dem Gegenüber zuhören würden, könnten wir erkennen, dass das Eigene nur eine Version unterschiedlicher Möglichkeiten ist. Aber oftmals hören wir nicht zu. Manchmal entstehen aus diesen Momenten der Begegnungen Menschen, die so plötzlich angestrengt interessiert sind an „fremden“ Kulturen, womöglich weil sie dadurch die Selbstverständlichkeiten der jeweils eigenen Kultur zu hinterfragen lernen und aus ihren eigenen Engen ausbrechen können. Und manchmal entstehen Menschen, die vor der Relativität des Eigenen so erschrocken zurückschrecken, dass sie noch angestrengter nach klaren Linien und Worten für sich und das vermeintlich Fremde suchen.

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Embrace The Face, Selfportrait © Moshtari Hilal

In Momenten globaler oder nationaler Katastrophen, im Angesicht von Krieg oder Besatzung, Unterdrückung, Rassismus und Sexismus, Diskriminierung und unsichtbaren Priviliegien, ist nicht immer Zeit für Begegnungen und langsames Herantasten. Und wenn ich ehrlich bin, glaube ich auch nicht, dass Empathie die Lösung ist und wir im Grunde doch nur alle „Nationalität Mensch“ sind und es lernen müssen. Es gibt Differenzen und wir sind nicht alle gleich. Es gibt Differenzen, bedingt durch unsere unterschiedlichen Lebenserfahrungen. Das ist nichts Schlechtes und nichts, was man verschweigen sollte. Es gibt Differenzen natürlicher Art und welche durch unsere Erfahrungen im Umgang mit konstruierten Grenzen und Kategorien. Diese Kategorien mögen nicht real sein, aber sie werden real erfahrbar in einer Gesellschaft, die an sie glaubt. So macht es durchaus einen Unterschied, wo ich aufwachse oder ob ich als männlich oder weiblichlich gelesen werde.

Unsere Identität ist nur die Summe unserer eigenen Erfahrungen und der konstruierten Bilder und Narrative, die wir tagtäglich konsumieren. Sympathie oder Empathie können nur dann empfunden werden, wenn sich Überschneidungen in diesem Erfahrungsorganismus auffindbar machen. Empathie erfordert einen Minimalkonsens, einen Widerhall des Eigenen im Anderen, ungeachtet der Differenz des Anderen. Empathie empfinden wird schwieriger, je vermeintlich fremder uns das Gegenüber ist. Die Emotionalisierung von Debatten um Geflüchtete zum Beispiel und die Provokation von Empathie, erzwingt eine Eindimensionalität unserer Wahrnehmung der geflüchteten Menschen, damit wir überhaupt im Stande sind Empathie zu empfinden. Wir sehen dann nur das Opfer oder den Flüchtling.

Empathie wird schwieriger, wenn wir anerkennen müssten, dass dieser Mensch politischer Akteur ist. Jemand, der sich gegen ein System entschieden hat oder gegen eine aufgezwungene Lebensform und selbstbestimmt emigriert oder geflüchtet ist. Wenn die Person weder arm noch bedürftig ist, sondern nur keine Papiere hat aufgrund unseres Systems oder nicht die gewünschte Sprache spricht, obwohl sie gebildet und belesen ist in der eigenen Sprache, die wir in Europa nicht anerkennen. Entweder wir viktimisieren, um Empathie zu empfinden oder wir nach Gemeinsamkeiten, damit wir uns in das Gegenüber hineinversetzen können und Empathie als geteiltes Leid empfinden können. Dabei zensieren wir jedoch die Differenz im Anderen, alles womit wir nichts anfangen können. Langfristig führt das nicht zur gleichberechtigten Teilhabe oder einem Zusammenleben auf Augenhöhe, sondern einer „die ist doch auch nur ein Mensch, wie du und ich, obwohl sie …“ – Haltung. Obwohl sie Kopftuch trägt. Obwohl sie Schwarz ist. Obwohl sie keine von uns ist. Dabei denormalisieren wir die Differenz und erheben das Eigene als Kommunikationsgrundlage.

© Moshtari Hilal
© Moshtari Hilal

Der Journalist Hari Ziyad schreibt in einem seiner Artikel: „Emapthy wont save us“ – Empathie wird uns nicht retten. Und ich stimme dem zu, weil es das weder im Irakkrieg, im Afganistankrieg, bei der Besatzung Palästinas, im zweiten Weltkrieg getan hat, noch während des Kolonilalismus oder bei menschunwürdigen Arbeitsverhältnissen in beispielsweise Bangladesch. Er schreibt, dass das Konzept der Empathie dem Irrglauben unterliegt, dass wir Menschen uns alle so ähnlich sind, dass wir das Leid des Anderen nachvollziehen können. Aber was passiert, fragt er weiter, wenn wir und unsere Erfahrungen so unterschiedlich sind, dass wir uns nicht in den anderen hineinversetzten können? Oder was, wenn schlimme Dinge passieren, bevor das Verstehen und Fühlen des anderen eintritt? Was wenn niemand einem zuhört, um zu verstehen?

Am Ende geht das Konzept der Emapthie auf die Kosten der marginalisierten Gruppen, weil sie, um gehört zu werden oder geachtet zu werden, sich dem Erfahrungshorizont der Merhheitsgesellschaft annähern müssen. Es muss so gesagt werden, damit die anderen auch verstehen können, dass dein Leben genau so viel wert ist wie das ihre? Hunderte Menschen of Color ertrinken im Mittelmeer und erst ein Bild von einem kleinen toten Kind am Strand erzeugt einen medialen Aufschrei. Für Ziyad bedeutet Empathie, warten bis sich die Mehrheitsgesellschaft für die Probleme der Minderheiten interessiert. Gleichzeitig muss der Unterdrückte sein Leid zur Schau stellen und ihn beweisen in der Hoffnung, dass die Mehrheitsgesellschaft etwas empfindet. Empathie bedeutet, Voyeurismus betreiben auf Kosten der marginalisierten Leben, ihre Leichen, Opfer und Tote im Loop in den Nachrichten und auf Titelblättern zeigen, während weiße Opfer Individuen mit einer Privatsphäre und Persönlichkeitsrechten sind.

Die Wissenschaftlerin Sarah Ahmed erinnert daran, „wie verschiedene Emotionen als Technologien angewendet werden, um Menschen zu regieren“. Zum Beispiel „[i]m australischen Kontext ist das Gefühl der Scham sehr interessant, denn sich gegenüber der indigenen Bevölkerung für die Vergangenheit zu schämen, erzeugt ein neues nationales ‚Wir‘. Diese Emotion wird so ‚performed‘, als sei die Geschichte schon überwunden. Sie verdeckt eine Wunde, die aber bis heute präsent ist.“ Judith Butler fragt in ihrem Buch „Gefährdetes Leben“, was ein Leben betrauerbar macht, welche menschlichen Verluste betrauert werden und welche vom politischen Horizont verschwinden. Im Kontext von transnationalem Terrorismus eine der wahrscheinlich dringendsten politischen Fragen. Ahmed sagt auch, dass Wohltätigkeit und Humanitarismus im Zusammenhang mit Empathie bestehende soziale und ökonomische Beziehungen reproduzieren, weil der Akt des Gebens auf Großzügigkeit beruht. Das verschleiere oft die Geschichte des Diebstahls, der es manchen Personen überhaupt erst ermögliche zu geben.

12941192_1664620867138051_378594700_o„Empathy Won’t Save Us“
Eigene Bilder und Narrative von Moshtari Hilal
Ausstellung bis Juni 2016 im
FRIEDA-Frauenzentrum, Berlin

Deshalb müssen wir aufhören zu glauben, dass wir einander mögen und achten können, ohne unsere Privilegien zu reflektieren und unser politisches System zu hinterfragen. Empathie bedeutet nichts, wenn wir uns nicht für die Machtverhältnisse interessieren, welche die Not des Anderen produzieren. Anstatt also auf einen Empathie-Diskurs zu warten oder auf diesen zu hoffen, ist es deutlich positiver, eigene Empowerment-Diskurse zu schaffen. Aktivismus kann Verluste jenseits der Mehrheitsgesellschaft sichtbar machen und die Selbstwahrnehmung und das Selbstgespräch brüchig machen. Die gegenseitige Anerkennung und Zusammenarbeit innerhalb der marginalisierten Gruppen kann die Empathie der Mehrheitsgesellschaft obsolet machen.

Wie ich zu Beginn sagte, würde ich gerne über Porträts sprechen. Teil meines Aktivismus ist die Darstellung marginalisierter Gesichter, Perspektiven und Narrative, aber auch die Ironisierung von kollektiven Identitätsvorstellungen innerhalb meiner Arbeit als Illustratorin. Als Teil dessen begreife ich auch die Selbstdarstellung und Selbstinszenierung oder Selfies. Mit der Selbstdarstellung können sich marginalisierte Gruppen individuell Gehör verschaffen und sich sichtbar machen. Vor allem in der weißen und normativen Medienlandschaft leiden viele Gruppen an der Unsichtbarmachung. In der Entrückung aus der Mainstream-Wahrnehmung lassen sich allerdings die eigenen Bedürfnisse und Unzufriedenheiten nicht kommunizieren. Über das Internet, alternative Medien, Eigenpublikationen, selbstorganisierten Treffen und Gruppen können den weißen Medien Gegenthesen und Gegenkulturen oder auch nur Ergänzungen entgegengesetzt werden. So können neue Bilder und Narrative geschaffen werden, welche die eigenen Geschichten und Bedürfnisse thematisieren ohne die Erlaubnis oder der Anerkennung etablierter Gruppen und Stimmen. Ich glaube auch, dass wenn wir das Selbstbewusstsein entwickeln unsere eigenen Geschichte mit unseren eigenen Prioritäten zu erzählen, wir die Realität langfristig verändern können.