Von Magda Albrecht

Meine erste Diät machte ich noch vor meiner Einschulung, das muss 1992 gewesen sein. Bereits in diesem Alter hatte ich so oft gehört, dass ich „zu dick“ sei, dass ich mir fest vornahm, bis zum Schulanfang einige Kilos zu verlieren. Insbesondere meine Mutter – auch dick – musste sich ständig vor Ärzt*innen und Schulpersonal rechtfertigen, die das hohe Gewicht ihrer Kinder „besorgniserregend“ fanden. So besuchte ich mein erstes Diätcamp. Bevor ich lesen oder schreiben konnte, zählte ich also Kalorien.

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„Hast du zugenommen?“ – „Ja, super, oder?“ © Veronika Merklein, Foto: Robert Bodnar

Ich diätete mich von der Grundschule in die Oberschule und führte penibel Gewichtstabellen. Im Hort bekam ich spezielles Diätessen und saß am Tisch der ebenfalls diäthaltenden Erzieherinnen. Das klingt jetzt furchtbar und traurig (und ist es auch), aber ich war kein unglückliches Kind und beschäftigte mich auch mit anderen, schöneren Dingen. Die ständigen Gedanken um mein Gewicht stressten mich zwar und suggerierten, dass das mein ultimativer „Makel“ sei. Es war allerdings ein Stress, den ich kaum hinterfragte. Er gehört(e) einfach zum Alltag.

Mein erstes Diätcamp sollte nicht mein letztes bleiben. Ich erinnere mich an eins, in dem wir jede Woche gewogen wurden. Wie eine Versagerin fühlte ich mich, weil ich in der ersten Woche „nur“ ein Pfund abnahm. Der einzige Lichtblick war meine dicke Tante E., die meinen kleinen Bruder und mich einmal vom Camp abholte und mit uns Erdbeerkuchen mit einem dicken Klecks Sahne aß. Noch heute denke ich mit Herzchen in den Augen an diese Tante, wenn ich genüsslich in ein saftiges Stück Erdbeerkuchen beiße.

Etwa zur gleichen Zeit, 1997, trafen sich wichtige AnzugträgerInnen in Genf zu einer Konferenz der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Das ist jene Organisation, die queeres Begehren bis 1992 als „Krankheit“ klassifizierte und bis heute Trans* und nicht-binäre Menschen pathologisiert. Nicht gerade sympathisch also.

Eine ExpertInnengruppe der WHO diskutierte angeregt darüber, wie die „weltweite Epidemie“ namens „Adipositas“ (auch „Fettleibigkeit“ genannt) eingedämmt werden könne. Wenn AnzugträgerInnen (meinen) Köper als „Epidemie“ oder „krankhaft“ beschreiben, horche ich natürlich kritisch auf. Epidemie klingt zwar wie episch, meint aber leider etwas anderes, nämlich „ansteckende Massenerkrankung“.

1439025483Die in Wien lebende deutsche Künstlerin Veronika Merklein (*1982) genoß ihre Ausbildung an der Akademie der bildenden Künste Wien und der Kunsthochschule Kassel. Ihre multimedialen Arbeiten mit dem Fokus auf Performancekunst umkreisen performanceimmanente Themen, popkulturelle und sozialpolitische Phänomene sowie schlichtweg „das schöne und brutale (Innen)leben der Menschen“. Ausgehend von ihrem eigenen Körper beschäftigt sie sich in ihrem derzeitigem Arbeitszyklus mit Body- und Food-Politics. Für ihre Arbeit erhielt sie mehrfach Stipendien, u.a. vom Bundeskanzleramt Österreich und dem Austrian Cultural Forum New York.Präsentiert hat sie ihre Arbeit u.a. in der Defibrillator Gallery, Chicago (US), im Neuen Kunstverein, Wien (AT), Kaskadenkondensator, Basel (CH), Fridericianum, Kassel (D), Secession, Wien (AT), Kiasma, Helsinki (FI) und immer wieder auch zuhause. Sie wird vertreten von der Galerie Michaela Stock. Sie ist Mitgründerin von CurVienna, einer Intitiative für Körpervielfalt in Österreich, welche vor einer Woche den CurVienna Plus-Size Modemarkt und den Talk „Lose hate not weight“ mit der US-Fat-Aktivistin Virgie Tovar veranstaltet haben. Im Juni 2016 wird sie als Guest Teacher bei den PAS-Performance Art Studies zum Thema „ICON“ in Wien unterrichten. Weitere Projekte führen sie noch dieses Jahr nach Split und Oslo. Wer up-to-date bleiben möchte, kann sich Merklein’s witzigen Newsletter „Veronika Merklein’s rarer Newsletter“ in deutsch oder englisch abonnieren.

 Um das „Ausmaß“ der frisch entdeckten Epidemie zu veranschaulichen, schufen die WHO und ihre Verbündeten der Pharmaindustrie bei dieser Konferenz eine einheitliche und weltweit verbindliche Definition für Körpergewichtskategorien und bemühten dafür den bereits existierenden Body Mass Index, besser bekannt als BMI. Bereits existierende Werte wurden einfach runtergesetzt und zu neuen Werten vereinheitlicht: Ab 1997 galt mensch mit einem Wert von 25 als „übergewichtig“ und ab einem Wert von 30 „krankhaft übergewichtig“ bzw. „adipös“. (Ich tippe dies übrigens mit meinen adipösen Fingern, die zu meinem adipösen Körper gehören.)

Innerhalb weniger Jahre übernahmen „weltweit praktisch alle staatlichen Gesundheitsministerien, -institute, -behörden und unabhängige Gesundheitsorganisationen die neuen Grenzwerte“. In den USA, in denen bis 1998 viel höhere BMI-Werte als Maßstab dienten, wachten eines morgens also 35 Millionen Menschen als so genannte „Übergewichtige“ auf, und das ohne auch nur ein einziges Pfund zugelegt zu haben. Das Runtersetzen der Werte folgte einem wirtschaftlichen Kalkül: Es braucht eben eine wachsende Zielgruppe für (sinnlose) Diätnahrung und (mitunter gefährliche) Diätpillen.

Magda Albrecht ist Bloggerin, Musikerin, Aktivistin und arbeitet im Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungsmanagement. Sie hält Vorträge und gibt Workshops zu den Themen Körpernormierungen, Selbstermächtigung und queer_feministischer Aktivismus. Die Angaben zum Body-Mass-Index für diesen Text stammen aus  dem Buch „Dick, doof und arm. Die Lüge vom Übergewicht und wer davon profitiert“ von Friedrich Schorb, erschienen 2009 bei Droemer Knaur.

Dass die Angst vor der so genannten „Übergewichts-Epidemie“ und mein teilweise von Ärzt*innen verordnetes Diätverhalten nicht zufällig zeitlich zusammenfielen, verstand ich erst viele Jahre später. Über die politische Dimension von Körpergewicht nachzudenken, hat mir in den letzten Jahren sehr geholfen, nicht mehr meinen Körper, sondern lieber gesellschaftliche Verhältnisse zu dissen. Am Internationalen Anti-Diät-Tag feiere ich die Schritte, die ich in meinem Leben schon gegangen bin und respektiere die Unsicherheiten, die vielleicht für immer bleiben werden. Ich feiere meinen epischen epidemischen Körper.