Von Ok-Hee Jeong

 Yoon Kyung-Hee trägt ein gelbes Langarmshirt mit einem Fotoaufdruck von ihrer Tochter Si-Yeon. Eigentlich hätte das quirlige und lebhafte Mädchen letztes Jahr die Schule beendet und wäre nun im ersten Semester an einer Universität. Sie würde immer noch begeistert Poplieder komponieren und lachend durch die Wohnung laufen und sich mit Yoon Kyung-Hee unterhalten – vielleicht über ihren Freund, über ihre Freunde oder ihren ersten Unitag.

© Tsukasa Yajima
Yoon Kyung-Hee beim Protest mit einem Foto ihrer Tochter auf dem Shirt © Tsukasa Yajima

Yoon Kyung-Hee kann sich immer noch deutlich an den Morgen des 16.4.2014 erinnern: „Mein Cousin rief mich aufgeregt an, ob ich die Nachrichten im Fernsehen gesehen habe. Das Schiff mit den Danwoon-Highschool-Kindern sei am Sinken. Seine Tochter Ae-Jin besuchte mit Si-Yeon die gleiche Schule und die gesamte zweite Jahrgangsstufe der Danwoon-Highschool war auf Klassenfahrt zur Jeju-Insel. Als ich die Nachrichten sah, habe ich panisch Si-Yeon angerufen. Die Verbindung wurde ständig unterbrochen. Als ich endlich mit ihr sprechen konnte, sagte sie gelassen, die Rettungsleute seien da.“

Zwischen den vielen Textnachrichten zwischen ihr und ihrer Tochter telefoniert sie zuletzt gegen 10 Uhr mit Si-Yeon: „Ihre Stimmung war da völlig umgeschlagen. Ihre Stimme war angstverzerrt. Feuer sei ausgebrochen. Sie habe sich verbrannt. Ich rief verzweifelt, Mama kommt zu dir! Ich hole dich da raus. Sie schrie nur: Wie willst du denn hierher kommen? Du weißt doch gar nicht einmal, wo ich bin. Wir sind doch mitten auf dem Meer! Ich hörte sie weinen. Dann beruhigte sie sich plötzlich. Sie sagte, ihre Klasse sei nun an der Reihe bei der Rettungsaktion; sie wolle mich anrufen, wenn sie draußen sei.“

Si-Yeon wird letztlich fünf Tage später am 21. April 2014 auf offenem Meer tot aufgefunden. Noch im Tod hält sie ihr Handy fest umklammert. Yoon Kyung-Hee weint leise: „Sie hatte bis zuletzt ihr Handy festgehalten. Sie hatte mir ja versprochen, mich anzurufen.“

Als die Personenfähre Sewol im Gelben Meer versinkt, kommen dabei 305 Menschen ums Leben und Si-Yeon ist mit ihrer Cousine Ae-Jin eines der 250 Kinder, die bei dem Schiffsunglück sterben. Diese Katastrophe erregt die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Zwei Jahre nach der Katastrophe ist das Interesse der ausländischen Medien längst erloschen, aber immer noch kämpfen die Angehörigen der Sewol-Opfer um die Wahrheit. Sie möchten von ihrem Staat wissen, warum ihre Familienangehörigen, ihre Kinder sterben mussten. 

Zäsur in der südkoreanischen Gesellschaft
Wähnte sich die südkoreanische Gesellschaft vorher in einem hoch technologisierten, modernen Rechtstaat, versetzt die Schiffskatastrophe sie jedoch in einen Schockzustand. Der sinnlose Tod der unschuldigen Kinder legt die stinkenden, eitrigen Wunden des südkoreanischen Staates offen: Das komplexe, dichte Netz aus Nepotismus und Korruption, das um die Wirtschaft, Beamt*innen und Politiker*innen gespannt ist, die Gleichschaltung der Medien durch die Regierung, die Regulierung der Wirtschaft auf Kosten der Sicherheitsmaßnahmen für Menschenleben, fehlende Gesetzesregelungen zu Sicherheitsthemen sind nur einige Punkte von vielen. So werden das verantwortungslose Verhalten des Kapitäns und der Schiffsbesatzung, die Ermöglichung der exzessiven Überladung des Schiffes mithilfe von Bestechung der verantwortlichen Beamten, das völlige Versagen der Küstenwache bei der Rettungsaktion und des Krisenmanagements der Regierung als Gründe für das Schiffsunglück und für den Tod der Opfer genannt.

Der Kapitän, einige Besatzungsmitglieder und der Betreiber der Fähre sind bis jetzt verurteilt worden. Die Frage jedoch, warum die Opfer nicht gerettet werden konnten, obwohl die Küstenwache vor Ort war und obwohl, wie Experten sagen, genug Zeit gewesen sei, sie zu retten, ist immer noch nicht beantwortet und die Verantwortlichen nicht bestraft.

Kampf um die Wahrheit
So haben sich bereits im April 2014 die Angehörigen der Opfer zusammengetan und engagieren sich seitdem mit Unterschriftenaktionen, Hungerstreiks, Protestmärsche, Demonstrationen und Kampagnen und fordern nach einer gründlichen und unabhängigen Untersuchung der Katastrophe und die Einführung von notwendigen Gesetzen, damit es nicht wieder zu solch einer Katastrophe kommt.

© Yoon Kyung-Hee
Eine Urne und Bilder in Erinnerung an Yoon Kyung-Hees beim Unglück verstorbene Tochter © Yoon Kyung-Hee

Mit ihnen kämpft auch Yoon Kyung-Hee in vorderster Reihe; eine Frau, die sich vorher kaum für gesellschaftliche Belange interessiert hat: „Ich bin beschämt, wenn ich Menschen treffe, die sich mit uns solidarisieren und sich engagieren. Sie wollen eine bessere Gesellschaft aufbauen. Ich denke, wenn ich ebenfalls vorher laut aufgeschrien hätte für die Gesellschaft, hätte ich dazu beigetragen, eine bessere Welt aufzubauen. Vielleicht hätte dann mein Kind nicht so sterben müssen. So bereue ich mein gleichgültig gelebtes Leben. Ich bereue es sehr. Aber ich bin dabei, zu lernen.“

Die Angehörigen erfahren jedoch nicht nur Solidarität aus der Bevölkerung. Immer wieder werden sie kritisiert, sie wollen auf Kosten ihrer Kinder nur hohe Entschädigungssummen herausschlagen und sie sollen doch endlich Ruhe geben und die Gesellschaft nicht aufwiegeln, denn die Schiffskatastrophe sei doch nur ein weiterer Verkehrsunfall.

Die Umfrageergebnisse der Zeitung Hankyoreh im April 2016 zeigen jedoch, dass die Angehörigen nicht alleine in diesem Kampf um die Wahrheit stehen: 80% der südkoreanischen Bevölkerung wollen die Wahrheit über die Sewol-Schiffskatastrophe erfahren. Auch die jüngste Niederlage der Regierungspartei Saenuri bei den Parlamentswahlen am 13.4.2016 wird als deutliche Abstrafung der Regierung der Präsidentin Park Geun-Hye bewertet, die nicht nur bei dem Krisenmanagement bei der Schiffskatastrophe versagt hat, sondern auch bei der Wahrheitsfindung um die Sewol-Katastrophe.

Ok-Hee Jeong arbeitet als freie Journalistin in Berlin. Ihre Artikel sind unter anderem in ZEIT Online, taz, FAZ und WOZ (Schweiz) erschienen. Im Jahre 2015 hat sie ihren ersten Dokumentarfilm SEWOL fertiggestellt, der die Geschichte der Eltern der Sewol-Opfer erzählt. Zurzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Dokumentarfilm mit dem Arbeitstitel „Werner, Ger und Angelus“ zum Thema „Liebe im Alter bei gleichgeschlechtlichen Paaren“, gefördert durch die Freunde und Freundinnen der Heinrich-Böll-Stiftung.

Zwei Jahre nach der Katastrophe befindet sich nun Yoon Kyung-Hee mit Yoo Gyoung-Geun, dem Vorsitzenden der Organisation „4/16 Sewol Families for Truth and a Safer Society“, auf Europa-Kampagne und besucht unter anderem Berlin, Rom, London, Brüssel und Paris. In 32 Städten der Welt wird – organisiert von den Südkoreanern im Ausland – den Opfern der Sewol-Katastrophe gedacht. Sie wollen damit Nachdruck verleihen, dass Sewol nicht vergessen ist und die Menschen eine unabhängige und gründliche Untersuchung vom südkoreanischen Staat fordern. Die Angehörigen sagen, es sind diese Stimmen der Menschen, ob in Südkorea oder im Ausland, die ihnen bei diesem Kampf Mut und Kraft geben.

 Bei dieser Europa-Kampagne treffen sie jedoch nicht nur Menschen aus ihrer Heimat, sondern auch unterschiedliche Opfergruppen wie unter anderem die Angehörigen der Estonia-Katastrophe aus Schweden, die seit 20 Jahren für die Wahrheit kämpfen, oder in Großbritannien die Angehörigen der Hillsborough-Tragödie, die 27 Jahre lang für die Wahrheit gekämpft und nun im April 2016 endlich Gerechtigkeit zugesprochen bekommen haben. Sie wollen von ihren Erfahrungen ihres langen Kampfes lernen und sich mit ihnen solidarisieren.

„Wir sind darauf vorbereit, dass unser Kampf um die Wahrheit zehn, zwanzig, dreißig oder vierzig Jahre dauern kann“, sagen die Angehörigen der Sewol-Opfer. Yoon Kyung-Hee sagt mit fester Stimme: „Wir möchten, dass der Tod unserer Kinder nicht sinnlos gewesen ist. Ich möchte Si-Yeon sagen können, durch dich ist unsere Gesellschaft eine bessere geworden.“