Von Eva-Maria Tepest

Als ich mich kürzlich vor einem Bekannten als queer outete, reagierte er vorhersehbar: „So you’re a lesbian? Do you like to eat pussy?“ Diese Erfahrung hat System: Im Film „Carol“ porträtiert ein cismännlicher Regisseur mit heterosexuellen Hauptdarstellerinnen lesbische Liebe. Nach einem wochenlangen bloß latent homoerotischen Road Trip durch die Staaten fällt die erste sexuelle Begegnung zwischen Carol und Therese entsprechend paradigmatisch aus: Nach dem galanten Öffnen ihres Bademantels führt Carol ihre junge Geliebte auf dem Motelbett zu verzagter Streichmusik ins Lesbian 101 ein: Romantische Statements wie „Du bist mein aus dem All gefallener Engel“ münden in den ebenso unvermeidlichen wie sanften Oralsex.

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Benutzen wir eine Blutorange als Metapher, weil wir sie als angemessen empfinden oder weil es von uns erwartet wird? © monica.shaw

In der Popkultur ist Oralsex das exemplarische Charakteristikum des lesbischen Sexes – ob im zeitgenössischen lesbischen Film, im queeren Porno (etwa in Erika Lusts Kurzfilm „Lust“, der soften lesbischen Oralsex im Kerzenschein abbildet) und in diversen lesbischen Guides zum Cunnilingus (etwa hier, hier und hier). Leider dominiert der Oralsex-Mythos nicht nur den Heteroporno, sondern ebenso die Diskussionen von Menschen, die lesbischen Sex haben und darüber öffentlich reden. (Natürlich können nicht nur Frauen* mit Frauen* lesbischen Sex haben, genauso wie Menschen aller Geschlechter und Identitäten schwulen, Hetero- oder keinen Sex haben können.) Wie genau strukturiert er unsere Vorstellung vom lesbischen Sex, unsere Bilder von Geschlecht und Erotik, von Macht und Begehren?

Im Buch „Female Masculinity“ legt Queer-Theoretiker*in und Transaktivist*in Jack Halberstam dar, wie im Zuge des lesbischen Feminismus der 1970er-Jahre die Performance von Butch/Femme „als ekelhafte Nachahmung von Heterosexualität“ aus der queeren Szene verdrängt wurde. Das führte einerseits zur Ablehnung von Butch und Femmes und „etablierte weißen Mittelschichtsfeminismus in einer Ästhetik des Androgynen“. Andererseits rückte es den soften Oralsex ins Zentrum einer lesbischen Sexualität, die unabhängig von Heterosex bestehen sollte: „Lesbischer Sex wird zugespitzt auf Oralsex, und Beidseitigkeit und Erwiderung werden zu seinen Hauptmodi erklärt.“ Die Einführung von Ausgeglichenheit in die sexuelle Gleichung war der Versuch, das Plus-Minus von als heteronormativ verstandenen Dominanz- und Unterwerfungspraktiken auszuhebeln.

Der Fokus auf Oralsex als Abgrenzung von Heterosex ist bewegungsgeschichtlich verständlich, und Oralsex – in allen Spielarten – oft ein wesentlicher Bestandteil des lesbischen Sex. Das Problem ist aber, dass der Oralsex-Mythos auf einer bestimmten Vorstellung von Geschlechterbildern und lesbischer Sexualität basiert, die zumindest einengend und schlimmstenfalls gewaltvoll sind.

Er suggeriert, dass lesbischer Sex konfliktfrei, beidseitig erfüllend und high functioning ist. Dadurch, dass dem Mythos vom Oralsex genau diese Merkmale zugeschrieben werden, verstärkt er eine spezifisch lesbische Sexangst. Als eine von wenigen schrieb die Psychoanalytikerin Nancy Toder 1978, zur Hochzeit des lesbischen Feminismus, über „Sexual Problems of Lesbians“ (und ihre Ängste). Sie berichtet, dass Lesben oft therapeutische Hilfe suchen, wenn ihre Partner*innenschaften frei von Oralsex sind – auch wenn die sexuelle Beziehung ansonsten als hochgradig befriedigend empfunden wird. So wird die Abwesenheit von Oralsex zu einem Problem erhoben und zu einem „lesbischen Mythos, der zerstörerisch ist, wenn er gegen den Partner eingesetzt wird: ‚Eine Frau ist keine richtige Lesbe, wenn sie keinen Oralsex mag.'“

Entgegen gängiger Darstellungen haben nicht alle Menschen, die lesbischen Sex haben, ständig Oralsex. Weil die Erwartung, Oralsex kundig performen zu müssen, um „eine richtige Lesbe“ zu sein, hemmt. Oder weil andere Praktiken als lustvoller empfunden werden: Denn im verzerrten Bild des harmonischen und erfüllenden lesbischen (Oral-)Sex scheint oft kein Raum zu bleiben für triebhafte und konfliktgeladene Erotik – auch wenn Macht, Unterwerfung und das Rollenspielen mit Geschlechterbildern einen zentralen Platz in der lesbischen Szene einnehmen. In der achtminütigen schonungslosen Sexszene in „Blau ist eine warme Farbe“ haben Adèle und Emma auch ziemlich viel Oralsex. Aber der wird begleitet von Ass-Play und Spanking, von Scherenposition und Fisting – und rahmt die sexuell-dringliche und schlussendlich zerstörerische Beziehung der beiden. Der Oralsex-Mythos dagegen ist auch ein Versuch, lesbische Sexualität unschädlich zu machen. Damit verweist er auf größere frauen- und lesbenfeindliche Zusammenhänge, auf Klischees von softer Weiblichkeit und handzahmer Lust.

Sex ist nie nur privat, und der Oralsex-Mythos etabliert und stärkt eine bestimmte Norm, über vermeintlich private sexuelle Praktiken hinaus. In der heutigen queeren Szene übersetzt sich das in Butch-Shaming, eine Abwertung von weiblicher* Männlichkeit, die sich nicht auf ironische Schnurrbärte beschränkt. Androgynität ist in, mitsamt bestimmten (schlanken und rassifizierten) Körperbildern.

Lesbische Sexualität befindet sich nicht in einem kerzenbeschienenen Vakuum. Sie ist voll von Ängsten, Zögern, Unwissenheit und Wut. Sie spiegelt Gesellschaft wider, und sie funktioniert wie alle Sexualitäten über Macht und Unterwerfung. Das gilt auch für Oralsex. Aber wer, aus welchen Gründen auch immer, keine Lust drauf hat, ist keine schlechtere Lesbe. „Do you like to eat pussy?“ Ja, nein, fuck you. Oder gleich mit Peaches: „Can’t talk right now, this check’s dick is in my mouth.“