Von Sophie-Charlotte Rieger

Winfried (dargestellt von Peter Simonischek) ist trotz fortgeschrittenen Alters der Rolle des Pausenclowns nie entwachsen. Sein Leben ist derart von Scherzen und Lügengeschichten geprägt, dass der Mensch hinter der komödiantischen Maske kaum noch zu erkennen ist. Vielleicht ist es diese maskierte Selbstflucht, die Winfried auch hinter die Fassade seiner Tochter blicken lässt.

©Komplizen Film
Ines (Sanda Hüller) offensichtlich zu Recht genervt von ihrem Vater „Toni Erdmann“ (Peter Simonischek). © Komplizen Film

Denn die erfolgreiche Unternehmensberaterin Ines (Sandra Hüller) ist mit ihrem selbstsicheren Auftreten in der Lage, die gesamte Familie hinters Licht zu führen. Nur der Vater merkt, dass sich hinter der Maske aus Professionalität eine andere Wahrheit verbirgt. Um herauszufinden, wie es Ines wirklich geht, reist Winfried nach Bukarest, wo Ines arbeitet. Schnell zeigt sich, dass er seiner Tochter in der Rolle des Vaters nicht näherkommen kann, und so muss sein impertinentes Alter Ego names Toni Erdmann diese Aufgabe übernehmen.

Maren Ades Inszenierung ist eine zurückgenommene, unauffällige. Da gibt es keine beeindruckenden Panoramabilder der Stadt Bukarest, keine pathetische Musikuntermalung. Die Handkamera von Patrick Orth ist auffällig zurückgenommen – lange Einstellungen, seltene Perspektivwechsel, Gegenschüsse. Eine natürliche Nähe zu den beiden Hauptfiguren entsteht, die durch das langsame Erzähltempo intensiviert wird. Maren Ade hakt keine Plot Points ab, sondern entwickelt ihre Geschichte Schritt für Schritt aus ihren Figuren.

Ebenso unprätentiös wie die Inszenierung ist auch Ades Umgang mit dem zentralen Vater-Tochter-Konflikt, der sich bewusst vom klassischen Daddy-Issue-Drama löst. Statt des Wiederkäuens der immer gleichen Geschichte einer unkonventionellen, neurotischen Tochter und ihrer Versöhnung mit dem reumütigen Businessvater geschieht in „Toni Erdmann“ ein Paradigmenwechsel. Maren Ades Verkehrung der klassischen Rollenverteilung hin zu einem väterlichen Lebemann und einer karrierebewussten Tochter lässt ein deutlich subtileres Spannungsverhältnis zweier Menschen entstehen, die die Kluft zwischen ihren Lebensstilen nicht mehr überwinden können.

Maren Ade ermöglicht die gleichberechtigte Einfühlung in beide Figuren. Wir sehen die unangenehme Körperlichkeit Winfrieds und die Grenzüberschreitung, mit der er sich unaufgefordert in Ines’ Leben drängt, ebenso wie die von ihren Emotionen größtenteils abgekapselte Tochter. Trotz der wechselnden Perspektive bleiben die Zuseher*innen dabei immer ein bisschen näher bei Ines. Es ist ihr berufliches Umfeld, ihr Kampf als Frau in einer Männergesellschaft, der stets thematisch mitschwingt.

„Toni Erdmann“ ist mehr als nur eine Vater-Tochter-Geschichte. Es ist ein Film über Machtstrukturen, die sich an Geschlechterkategorien und Gesellschaftsklassen orientieren. Nicht zuletzt ist es der gewollt unangepasste Toni Erdmann, der Ines das Schubladendenken ihres Milieus vor Augen führt und ihren Wertekatalog infrage stellt. Dabei achtet Maren Ade sehr darauf, auch in dieser Hinsicht keine Hierarchie zwischen Vater und Tochter aufzumachen.

Winfried ist kein „Mansplainer“, der die Tochter auf den richtigen Weg und den Boden der Tatsachen zurückbringt. Ines darf Geschäftsfrau bleiben. Die Wahl ihres Berufs und Lebensstils wird nicht infrage gestellt. Dabei gelingt Ade hier das im Kontext des deutschen Films nahezu Unmögliche: Sie erzählt von der Lebenskrise einer beruflich erfolgreichen Frau, ohne ein einziges Mal über Ehe und Nachwuchs zu sprechen!

Das Leben ist viel zu komplex für einfache Antworten, scheint die Regisseurin schließlich mit ihrem Film zu sagen. Es gibt so viele Rollen, die wir spielen, so viele Wege, die wir beschreiten, und so viele Richtungen, die wir einschlagen können und dürfen. Aber bei all dem sind es Begegnungen mit anderen Menschen, mit anderen Rollen, Wegen und Richtungen, die uns wachsen lassen. „Toni Erdmann“ ist im Kern eine Einladung zur Begegnung – je skurriler desto besser.

©Komplizen Film „Toni Erdmann“ D 2016
R: Maren Ade
Mit: Sandra Hüller, Peter Simonischek u.a.
162 Min., Start: 14.07.

Skurril war übrigens auch die erste Rezeption des Films. „Toni Erdmann“ sorgte in der hiesigen Berichterstattung der Filmfestspiele von Cannes 2016 nicht nur deshalb für Wirbel, weil endlich mal wieder ein deutscher Film um die Goldene Palme konkurrieren durfte. Zwischen den Zeilen der ungewohnt einhellig positiven Kritiken schwebte auch die unausgesprochene Verwunderung ob der Tatsache mit, dass dieses umjubelte Werk dem Genius einer Frau entsprungen war. Wie überraschend! Sollten Frauen tatsächlich doch in der Lage sein, preiswürdige Arthouse-Filme zu machen?

twitter-cover Sophie-Charlotte Rieger arbeitet als freie Filmkritikerin und Journalistin. Dieser Text ist zuerst in einer längeren Version beim Filmmagazin  „Filmlöwin“ erschienen, wo sie sich ganz dem feministischen Blick auf Film widmet.

Nein, denn am Ende ging Maren Ade bei der Preisvergabe der Festivaljury aus unerfindlichen Gründen leer aus. Ihren Film macht das aber kein bisschen schlechter. Im Gegenteil – hatte er diesen verlogenen Hype ohnehin niemals nötig. „Toni Erdmann“ ist ein guter Film und Maren Ade eine gute Filmemacherin mit einer beeindruckenden Schauspieler*innenführung. Das macht sie aber nicht zu einer „Ausnahmeregisseurin“, sondern zu einer begabten und auszeichnungswürdigen Künstlerin. Und Punkt!