Von Emine Aslan

„What if?“, denke ich mir. Was, wenn ich eines Morgens in einer für mich sehr typischen Manier viel zu spät dran bin und hektisch die Haustür hinter mir zuknallend zur Straße herausstürme. Ungeduldig stopfe ich beim Rennen meinen Schlüsselbund in meine Stofftasche und werfe dabei einen Blick auf das Henna auf meinen Fingernägeln, das schon so gut wie rausgewachsen ist.

Mit Pokémons gesellschaftliche Veränderung durchsetzen? Yes, we can! @ Tine Fetz
Mit Pokémon gesellschaftliche Veränderung durchsetzen? Yes, we can do this! @ Tine Fetz

(Bildbeschreibung: Pikachu, Glumanda und Mauzi krempeln sich die Ärmel hoch und halten die „We can do this“-Haltung mit angespannten Armmuskeln nach Rosie the Riveter ein.) 

Ich renne zur U-Bahn-Haltestelle und merke, wie unfit ich geworden bin. Als ich über die Straße laufe, werde ich aus einem Auto heraus beleidigt. Eine alte Frau mit grauer Dauerwelle, dicken Brillengläsern und angewidertem Gesichtsausdruck gestikuliert abwertend mit ihrer rechten Hand, während sie mich durch das halb heruntergelassene Autofenster fixiert.

Es laufen auch andere Leute über die Straße. Aber die Oma auf der Rückbank des VWs pickt sich ausgerechnet mich heraus. „What if?“, denke ich mir. Was, wenn ich den alltäglichen Mikroaggressionen mit einem Pokémon-Duell begegnen könnte? An manchen Tagen fühlt sich nämlich das tägliche Bewegen in den mir sehr vertrauten Straßen wie ein vorsichtiges Herantasten an potenzielle Pokémon-Trainer*innen an. Wie dieses Dickicht, durch das man sich bewegt, ohne voraussehen zu können, wann man zum Duell herausgefordert wird. Ich bewege mich an einen Ort und werde von mir unbekannten Personen angesprochen. Ich bin immer adressierbarer. Sichtbarer. Angreifbarer. „Hopp, hopp! Lauf mal schneller da!“ Plötzlich fängt mein Bildschirm an zu flackern und diese nervtötende Battle-Musik aus dem Pokémon-Gameboy-Spiel ertönt. Genau wie Ash, der Hauptcharakter der Pokémon-Fernsehserie und -Spiele, kann auch ich mich nicht entziehen.

Mein Gegenüber spricht mich an und entscheidet darüber, dass wir beide jetzt eine Situation vorliegen haben. Ich kann auf „Pause“ drücken. Kann meinen Gameboy aus- und wieder einschalten. Aber die nächste Begegnung wird nicht lange auf sich warten lassen.

In meinen Gedanken fange ich an zu sortieren. Welches Pokémon setze ich ein? Welche Attacken eignen sich am besten? Rassistische Oma ist meistens schon zu festgefahren in ihren Vorurteilen. Hinzu startete das Duell aggressiv. Es war keine dieser vermeintlich scheinheiligen Fragen, die mit „kulturelle Neugier“ daherkommen. „Völkerverständigung“, wie mir ein Mann in der S-Bahn mal verklickern wollte. Dazu kommt die kurze Zeitspanne, die ich zur Verfügung habe, um das Duell zu gewinnen. Binnen kürzester Zeit muss ich eine vorausplanende Strategie entwickeln. Bisherige Kämpfe in Erinnerung rufen. Mögliche Gegenangriffe voraussehen. Wie viel Energie habe ich noch? Es gibt gewisse Attacken, die können so stark sein, wie sie wollen: Sie eignen sich gegen bestimmte Pokémon einfach nicht.

Wir sind damit großgeworden. Haben alle Kämpfe von Ash gespannt mitverfolgt. Ich muss bedenken, ob mein Gegenüber ein Feuer-, Wasser- oder Donner-Pokémon einsetzt. Ein Pickachu habe ich leider nicht. Das Pokémon, das sogar absolut aussichtslos erscheinende Kämpfe gewinnt. Elemente bezwingt, gegen die es eigentlich gar keine Chance haben dürfte. Nach dem Duell komme ich zu spät zu meinem Seminar. Aber das ist nicht weiter schlimm. Alle wissen nämlich, dass die Pokémon Zugang in unsere Realität gefunden haben. Dass sie Teil unserer täglichen Lebenswelt geworden sind.

Es herrscht ein (Ein-)Verständnis darüber, dass Pokémon uns auf dem Weg zur Arbeit oder Universität aufhalten. Wenn Leute mich mit meinem Handy fuchtelnd auf ein unsichtbares Objekt zulaufen sehen, schmunzeln sie amüsiert. „Welches Pokémon fängst du gerade?“, fragen sie dann. Oder richten ihr Smartphone in dieselbe Richtung, um zu sehen, was ich gerade sehe. Keiner denkt sich, dass ich wahnsinnig sein muss. Auch nicht, wenn ich vermeintlich Selbstgespräche führe. Denn eigentlich denken sich mittlerweile die meisten, dass ich mit Headphones telefoniere. „What if?“, denke ich mir. Was wenn ein so breites Wissen über rassistische und sexistische Mikroaggressionen herrschen würde? Wenn ich die Oma im Auto dann anschreie, würde sich dann keiner denken: „Warum ist diese Hijabi schon wieder so aggressiv?“, sondern: „Wer weiß, wie viele rassistische Sachen sie heute schon wieder abbekommen hat.“ Vielleicht würden sie ihr Smartphone auf die alte Frau richten, um zu sehen, was ich gerade sehe.