Von Christina Mohr

„Das beste Pop-Buch des Jahres (bisher).“ – „Zumal ja gerade jetzt das fehlende Buch zur Musik der Gegenwart erscheint.“ – „Statt seiner Leserschaft kulturpessimistisch zu kommen, sieht er dem Sturm ins Auge.“ – „(…) das Glanzstück dieses an glänzenden Einfällen überreichen Buchs.“

© Flickr/endless autumn/CC BY-SA 2.0
© Flickr/endless autumn/CC BY-SA 2.0

Was ist denn hier los? Jens Balzer, Musikjournalist und stellvertretender Feuilletonchef der „Berliner Zeitung“, hat ein Buch veröffentlicht und alle seine „male buddies“ gehen steil. Die Bandbreite der Reaktionen reicht von Ehrfurcht (siehe Zitate oben) bis hin zum (vermutlich nicht ganz ironisch gemeinten) Befehl: „Mein Freund Jens Balzer hat ein super Buch geschrieben (…). Aber egal, wichtig ist einzig: Jens, Buch, kaufen, sonst gibt es das Peitschchen!“, so ein Kritikerkollege Balzers via Facebook.

Oh dear! Möglicherweise verweist die Androhung der Peitsche auf Balzers Bekenntnis im ersten Kapitel seines Buchs, demnach er „ganz glücklich“ sei, „wenn ich einmal ordentlich erniedrigt werde. In Popkonzerten bietet sich dazu aber nur noch selten Gelegenheit; man findet kaum mehr Künstler, die eine Erniedrigung sachgerecht durchzuführen verstehen – die also derart schön (…) sind, dass man sich in ihrem Angesicht schäbig, klein und nichtswürdig fühlen kann.“

Bisher dachte ich ja, dass der tollste Effekt eines Popkonzerts auf das Publikum überschwappendes Empowerment sein könnte, aber das ist wohl nur eins von mehreren Missverständnissen und Ärgernissen rund um dieses Buch. Einmal mehr erklärt ein weißer, mittelalter Mann den Pop. Weil es aber schon so viele dicke Geschichtsbücher über Pop gibt, hat Balzer ein sehr subjektives „Panorama der Gegenwart“ erstellt; einer Gegenwart, die er im Jahr 2000 beginnen lässt. So weit, so gut.

Anders als bei beispielsweise Diedrich Diederichsen oder Simon Reynolds – um zwei prominente Popenzyklopädiker zu nennen – machen Balzers unzählige Konzert- bzw. „Frontberichte“ (Zitat) einen Großteil seines Buchs aus. Die Fetischisierung des Dabeigewesenseins und die vorgebliche Authentizität unauthentischer Ereignisse sind es auch, die als Belege für Balzers umfassende Expertise gelten: Ob Unheilig, Céline Dion, Rammstein oder Frei.Wild, Balzer zieht es überall hin, wo es anderen Connaisseur*innen wehtut und der Masse gefällt. Der Erkenntnisgewinn ist dabei nicht immer offenkundig. Die Bewunderung für Balzer speist sich dennoch vor allem aus seiner „Chuzpe“ und „ausgeprägten Unerschrockenheit“, mit der er Konzerte von Helene Fischer besucht und sie im selben Atemzug abhandelt wie Sunn O))) und FKA twigs. Helene Fischer! Die teflonbeschichtete, Kräuterbutter bewerbende Akrobatin – unbestreitbar Deutschlands größter Star, bisher jedoch komplett indiskutabel für coole Auskennertypen, die ihm nunmehr atemlos Respekt für diese Heldentat zollen.

Mit schwurbeligen Formulierungen und kühnen Vergleichen, die ihm derart viele Namen eingebracht haben, als sei er selbst ein Popstar („Popkardinal“, „der Mann, der alles weiß“), wirft er so manche Nebelkerze. Helene Fischer etwa erklärt er zur „megaeklektischen Multimediakünstlerin“, die mit „den Mitteln eines nihilistischen Postfeminismus“ arbeite. Und weil er gleich zu Beginn des Buchs anhand von Bands wie The Strokes und The Libertines den „Niedergang der männlichen Herrschaft“ diagnostiziert und die Zukunft des Pop im „Digitalfeminismus“, sprich bei Künstlerinnen wie Holly Herndon, Grimes und Laurel Halo entdeckt, könnte man beglückt einen feministischen Ansatz Balzers konstatieren – der allerdings rasch einen unguten, unverschämten, jovial-paternalistischen Touch bekommt.

So bezeichnet er Amy Winehouse als ein „bedeutungslos vor sich hin gurrendes Retro-Soul-Sternchen“, Adele verkörpere dagegen die „souveräne, starke, selbstbewusste Frau“; die „neuen Diven“ Lady Gaga, Beyoncé und Rihanna bezichtigt er der „frivolen Faulheit“, Rihanna sei außerdem ein Beispiel dafür, „wie weit man heute kommen kann, ohne ein ‚Ich‘ zu besitzen“. Lana Del Rey beschreibt er wegen ihres Babydoll-Kleids als „schwangere Jackie Kennedy“. Und so weiter. Und so fort.

978-3-87134-830-3„Pop – Ein Panorama der Gegenwart“
Jens Balzer
Rowohlt, 253 S., 20 Euro, bereits erschienen

Balzers Drang zum Etikett macht auch vor männlichen Künstlern wie Devendra Banhart nicht halt („Bärte des Wartens, Bärte des Werdens“) und angesichts seiner Beschreibung der „hermaphroditischen Backenhörnchen auf Metamphetamin“ (Skrillex, Flying Lotus) wird man den Verdacht nicht los, dass er sehr drauf steht, nicht nur erniedrigt, sondern auch möglichst oft zitiert zu werden. Was Balzer dagegen weniger interessiert, ist die Diskrepanz zwischen dem (angeblichen) Bedeutungsverlust männlicher Rockcombos bei deren gleichzeitiger Überrepräsentanz, ja Dominanz auf Musikfestivals. Diese Fragen müssen die betroffenen Musikerinnen oder Journalistinnen schon selbst stellen, denen dann wiederum Humorlosigkeit und mangelnder Wettbewerbsgeist unterstellt wird.

Und falls jemand fragt: Ich wünsche mir keine weibliche Antwort auf Balzers Poppanorama. Es muss wirklich nicht immer gleich ein BUCH sein. Mit etwas weniger Ehrfurcht und dafür genauerem Hinschauen bei Jens Balzer wäre ich schon fast zufrieden. Beziehungsweise: Nein, das genügt mir nicht! Zeitgemäßes und damit feministisches Schreiben über Pop(kultur) sollte ohne einengende oder herabsetzende Klassifizierungen auskommen können – also weniger Diven, Elfen, Bärte, Backenhörnchen. Außerdem wünsche ich mir eine Sprache, die sich nicht nur darin gefällt, möglichst originelle, exzeptionelle Arabesken zu winden. Wer nach Beispielen sucht, dem*der empfehle ich Jessica Hoppers ironisch getitelte Textsammlung „The First Collection of Criticism by a Living Female Rock Critic“. Huch, das ist ja von einer Frau! ;-)