Von Jens Kastner

Sind Dreadlocks bei Weißen kulturimperialistisch? Offenbart der Protest gegen die Prekarisierung in Europa bloß die Heuchelei der Protestierenden, die ihre Privilegien nicht reflektieren? In den letzten Jahren sind verschiedentlich Stimmen laut geworden, die aus der Perspektive der Postcolonial Studies und des Critical-Whiteness-Aktivismus Behauptungen dieser Art aufstellen. Die Journalistin und Redakteurin des Missy Magazine Hengameh Yaghoobifarah hatte etwa in diesem Sinne ihrem Unmut über die kulturalistischen Gepflogenheiten beim Fusion-Festival Ausdruck verliehen. Und die postkoloniale Theoretikerin Nikita Dhawan kritisierte die Selbstverliebtheit des Protests in den westlichen Metropolen und die „feudale Einstellung“ der Protestierenden.

Re-Essenzialisierung ist analytisch wie auch politisch extrem problematisch, schreibt Jens Kastner. © Moshtari Hilal
Re-Essenzialisierung ist analytisch wie auch politisch problematisch, schreibt Jens Kastner. © Moshtari Hilal

Aus herrschaftskritischer Sicht müssen solche Kritiken ernst genommen werden, weil sie Fragen der Verknüpfung von kulturellen Differenzen und sozialer Ungleichheit thematisieren. Doch es ist an der Zeit, ihnen zu widersprechen. Denn kulturelle Ausdrucksformen und politischer Protest werden häufig nur noch dann für legitim und emanzipatorisch gehalten, wenn die Leute, die sie leben bzw. ausführen, bestimmte Bedingungen erfüllen. Diese Voraussetzungen werden zudem zu Wesensmerkmalen erklärt. Das ist nicht nur theoretisch problematisch, sondern führt letztlich zu einer rigiden Delegitimierung von Praxis. Und macht solidarischen Protest letztlich unmöglich.

Nikita Dhawan sagt den westeuropäisch-nordamerikanischen Straßenprotesten der letzten Jahre eine Freude am eigenen Widerstand nach, der strukturelle soziale Ungleichheit nicht nur nicht angehe, sondern auch verschleiere. Die Protestierenden seien in der „Komplizenschaft in der fortgesetzten Reproduktion der Subalternität“ gefangen. Die Proteste zwischen San-Precario-Bewegung und jenen gegen die restriktiven Migrationsgesetzgebungen sieht sie zwar als „Einspruch gegen Neoliberalismus und Neolokonialismus“. Dennoch sei das alles nicht ganz ernst zu nehmen. Schließlich bestünde ein „himmelweiter Unterschied zwischen einem arbeitslosen Jugendlichen in Spanien und einem Farmer in Indien, der sein Land verliert aufgrund des Zwanges, genetisch veränderte Monsanto-BT-Baumwolle anzubauen“. Doch wer wollte den strukturellen Unterschied bestreiten?

Aus ihm folgt nicht notwendigerweise ein Mehr oder Weniger an Leiden, geschweige denn eine bestimmte Haltung oder deren Ernsthaftigkeit. Genau das legt Dhawan mit dem Vorwurf der „Erotik des Widerstands“ aber nahe. Dass auch Leiden sich an gegebenen (ökonomischen wie emotionalen, sozialen wie kulturellen) Standards ausrichtet, also in Beziehung gesetzt werden muss zu seiner Umgebung, wird ausgeblendet. Selbstverständlich ist zu verhungern etwas anderes, als wegen der Arbeitslosigkeit wieder bei den Eltern einziehen zu müssen. Aber diese Absolutheit darf eben (analytisch wie politisch) nicht zum Legitimitätsgrad von Widerstand gemacht werden. Sonst ist das, was die einen Leute (etwa spanische Arbeitslose) tun, immer schon – durch ihre Positionierung innerhalb der globalen Arbeitsteilung wie ihre kulturelle Zugehörigkeit – halbherzig und unernst, während es bei anderen organisch erscheint.

Letztlich motiviert diese kulturelle Unterscheidung auch die Kritik von Hengameh Yaghoobifarah am Fusion-Festival. Sie beklagt einerseits die mangelnde Präsenz von People of Color bei erwähntem Event. Andererseits zielt ihre Kritik auf das Styling der Anwesenden: „Neben den Dreadlocks trugen weiße Menschen Kimonos, Kegelhüte, Oberteile mit random chinesischen Zeichen, Bindis, Saris, Federkopfschmuck, Tunnel, Turbane, Sharwals oder einzelne Federn im Haar (gerne einfach ins verfilzte Haar gesteckt). Wie Karneval der Kulturen in Berlin, nur ohne Kulturen. Wir schreiben das Jahr 2016 und bei der Mehrheit der Festivalbesucher*innen ist nicht angekommen, dass Red-, Black-, Brown- und Yellow-Facing unterste Schublade in der Garderobenwahl sind.“

Der (berechtigten) Empörung über die Abwesenheit bzw. den Ausschluss von People of Color bei einer subkulturellen, linken Veranstaltung soll damit begegnet werden, deren kulturelle Eigenheiten als solche zu betonen und die Verbindung von kulturellen Zeichen, ihrer Bedeutung und den Träger*innen dieser Bedeutungen festzuzurren. Widerstand können demnach nur indische Farmer (oder vergleichbare Subalterne) auf angemessene Art und Weise leisten, Dreadlocks stehen legitim nur Schwarzen Personen zu. Das ist eine Re-Essenzialisierung, die Wiedereinführung der Behauptung einer Wesensverbindung. Mit der Durchsetzung poststrukturalistischer Theorieansätze galten solche Wesensbestimmungen eigentlich als passé – deshalb die Vorsilbe „Re-„. Denn sie ist analytisch wie auch politisch extrem problematisch.

 Analytisch besteht das Problem darin, ungeheure Verallgemeinerungen hinsichtlich der kulturellen Rahmungen zu betreiben. Damit werden auch Praktiken verallgemeinert, die in diesen dominanzkulturellen Kontexten stattfinden. Was hat das nicht-kommerzielle Techno-Festival Fusion, das jährlich nördlich von Berlin stattfindet, tatsächlich mit jenen Minstrel-Shows in den USA des späten 19. Jahrhunderts gemeinsam, auf denen weiße Darsteller*innen sich das Gesicht schwarz anmalten („Blackfacing“)? Abwesende wurden dabei durch herabwürdigende Stereotype repräsentiert. Dadurch wurde die Selbstrepräsentation von Schwarzen verhindert, in den konkreten Theaterstücken wie auch ganz allgemein in der Gesellschaft.

Weil es diese Tradition gibt, können sich heutige Theaterproduktionen, in denen weiße Menschen angemalt als Schwarze auftreten, nicht damit herausreden, sie hätten es nicht so gemeint. Die Intention allein kann die Bildtradition nicht löschen und außerdem gibt es Schwarze Schauspieler*innen, die engagiert werden könnten. Aber ist das mit der Kleidungswahl der Fusion-Teilnehmer*innen gleichzusetzen? Erstens handelt es sich bei dem nicht-kommerziellen Event nicht um eine Institution wie das Theater. Zweitens verkleiden sich die Leute dort auch nicht, sondern leben in der Regel diesen Stil. Damit verorten sie sich drittens – so unreflektiert und peinlich das auch oft daherkommt – in einer anderen Tradition des kulturellen Zeichengebrauchs, nämlich dem sub- und gegenkulturellen. Und viertens nehmen sie mit ihrem Outfit keinen marginalisierten Personen den Job oder die Repräsentationsmöglichkeit weg. Minstrel-Show und Fusion gleichzusetzen läuft deshalb immer auch Gefahr, Erstere zu verharmlosen. Nach dem Motto: Wenn die Fusion wie Minstrel ist, kann Letzteres so schlimm ja nicht gewesen sein.

Darüber hinaus läuft Hengameh Yaghoobifarahs Ansatz, denkt man ihn zu Ende, ganz allgemein auf ein statisches (und damit extrem konservatives) Verständnis von „Kultur“ als Konglomerat kollektiv geteilter Merkmale hinaus. Wenn es nur für Schwarze legitim sein soll, Dreadlocks zu tragen, wird eine kulturelle Praxis (Frisieren) an eine als kulturell verstandene Zugehörigkeit gebunden (Schwarzsein). Kultur besteht dann nicht mehr aus Prozessen, in denen Menschen bestimmte Praktiken mit Sinn und Bedeutungen ausstatten. Stattdessen werden sie bloß als ausführende Agent*innen eines bereits vorhandenen Bedeutungspools gedacht. Da steht immer schon fest, was gut und angemessen für Schwarze, für Deutsche oder welche Gruppe auch immer ist.

Wer sich nicht daran hält, gehört dann unweigerlich zu den titelgebenden „Kulturlosen“. Das hieße letztlich, dass nur Menschen mit japanischem Migrationshintergrund Sushi essen und nur Frauen Röcke tragen dürfen bzw. sollen. Damit werden alle Hybridisierungshoffnungen verworfen – und auch der queerfeministische Anspruch, Dualismen zu durchkreuzen und Dichotomien aufzulösen. Was aber wird aus Comandante Brus Li von der indigen geprägten, südmexikanischen Guerilla-Bewegung EZLN? Ist der Kampfname eine illegitime Übernahme eines Minderheitenzeichens durch eine andere, sozusagen „rotes Yellowfacing“?

Bei der Frage, wer welche Zeichen legitimerweise gebrauchen darf, geht es nicht um das „Das wird man ja wohl noch machen/sagen/denken dürfen“ der Gegner*innen von Political Correctness. Die Berechtigung von Sprach- und anderen Regulierungen wird hier nicht in Abrede gestellt. Vielmehr geht es um deren Begründung. Die geschlechtersensible Schreibweise, die bemessene Redezeit, die Frauenquote – all diese Regeln sind die erkämpfte Reaktion auf die Benachteiligung und Diskriminierung durch wirkmächtige Zuschreibungen. Nur damit sollten sie auch begründet werden. Nicht mit vermeintlich kollektiven Wesensmerkmalen der konstruierten Gruppe.

Denn sonst wird den Möglichkeiten subkultureller Praktiken für die Angehörigen der Dominanzkultur die Legitimität abgesprochen. Und schließlich wird emanzipatorisch-politische Praxis schlechthin für bestimmte Leute, also Mehrheitsangehörige, als unmöglich dargestellt. Die starke Betonung, dass bestimmte Frisuren und Kleidungsstücke, also Zeichen, zu einer bestimmten „Kultur“ gehören und dieser nicht entliehen werden sollten, schreibt auch die Weißen – wie links oder wie arm auch immer – auf ihre angebliche „Kultur“ fest. Gegen den Mainstream der bundesdeutschen Rechtsextremismusforschung hatte auch die Soziologin Birgit Rommelspacher in den frühen 1990er-Jahren den Begriff der Dominanzkultur eingeführt, von der alle profitieren, die ihr zugerechnet werden. Sie hatte insistiert, das „Mächtige wie Machtlose rassistisch orientiert sind, wenn sie in dieser Gesellschaft aufgewachsen sind und nicht gelernt haben, sich bewußt davon zu distanzieren. Auf diese Tatsache zielt der Begriff der Dominanzkultur ab“. Der hier entscheidende Punkt ist allerdings, dass Rommelspacher die Möglichkeit einer bewussten Distanzierung explizit einräumt.

So unreflektiert und romantisierend das in vielen Fällen war, so gab es doch auch ein Aufgreifen und Adaptieren von Zeichen aus anderen Weltgegenden, das in linker und gegenkultureller Tradition steht. Dabei ging es – von den sogenannten „Stadtindianern“ der 1970er über den Iro im Punk bis hin zu den Dreadlocks – darum, ein Nicht-Einverständnis und eine Abgrenzung zu dominanten, kulturellen Umgangsformen inklusive Warenform und Fortschrittsparadigma zu demonstrieren. Dies geschah mit solidarisch-anerkennender und nicht mit verunglimpfender Absicht. Sicher, die Intention ist nicht alles und kann die (möglicherweise beleidigenden) Effekte nicht kontrollieren. Aber „gut gemeint“ ist auch keineswegs immer das Gegenteil von gut, auch wenn diese Appropriationen häufig nicht die Sichtbarkeit oder gar die Macht derjenigen gesteigert haben, aus deren Traditionen man sie entleihen wollte.

Auf die Konsequenz hinzuweisen, dass sub- oder gegenkulturelle Praktiken für unmöglich erklärt werden, bedeutet nicht, über die mangelnden Handlungsmöglichkeiten ohnehin Privilegierter zu jammern. Es fragt prinzipiell nach den Konzepten, wie diese Privilegien aus der Dominanzkultur heraus angegriffen werden können. Hier versperrt der Text von Nikita Dhawan das Denken und Praktizieren von Möglichkeiten. Ihr hämischer Hinweis, die Begeisterung weißer Mitteleuropäer*innen und Nordamerikaner*innen für das „Spektakel des Widerstands“ – etwa von Occupy Wall Street und der Empörten in Spanien – bringe „praktischer Weise die Tatsache [zum Verschwinden], dass sie selbst Teil der von ihnen bekämpften Strukturen sind“, lässt letztlich keinen Ausweg. Wer der Dominanzkultur angehört, kann demnach noch so gegen sie protestieren, er oder (etwas weniger vielleicht) sie profitiert strukturell. Dieser strukturelle Profit ist unbestritten, nicht aber eine gemeinhin mehr oder weniger absichtsvolle Beteiligung. Eine solche als Teil des (europäischen) Menschseins zu definieren, erklärt zum Wesensmerkmal, was historisch veränderbar gedacht werden muss. Und es setzt in Sachen Profit eben auch den Konzernchef mit der Kindergartenpädagogin gleich.

Vereinheitlicht werden damit aber auch die Marginalisierten. Es wird unterstellt, eine strukturelle Ausgrenzung führe zu kollektiv geteilten Haltungen und Vorlieben. Aber leider sind geteilte Diskriminierungen noch nie Garant für kollektive Mobilisierungen gewesen. Und warum sollte die Color der People of Color den Weg zu einer bestimmten Frisur und deren vermeintlich ursprünglicher Bedeutung weisen? Trägt Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo ihre Dreads, weil sie gewissermaßen natürliche Sympathien für die frauenfeindliche Rastafarian-Bewegung hat? Wohl kaum. 

Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien. www.jenspetzkastner.de 

Eine ausführliche Version des Textes erscheint in der Monatszeitschrift „graswurzelrevolution“. 

Im Juli 2016 hat ein Beitrag von Hengameh Yaghoobifarah über das Fusion-Festival, Rassismus und „kulturelle Aneignung“/Cultural Appropriation für heftige Reaktionen gesorgt. Doch wie sprechen wir über Rassismus in Deutschland und in der Linken? Die Beiträge dieser Reihe sind im Rahmen einer gemeinsamen Suche nach Antworten von Redakteur*innen von Missy Magazine und „ak – analyse & kritik“ entstanden und sollen zu einer Auseinandersetzung mit Cultural Appropriation, Identitäten und Politik (in) der Differenz beitragen. Die Beiträge erscheinen teilweise auch in der Printzeitung von „ak“. Die Debatte wird fortgesetzt.

 

Zitierte Literatur
Nikita Dhawan: Die unerträgliche Langsamkeit des Wandels: Das Phantasma einer Stimme des Volkes und die Erotik des Widerstands. In: Phantasma und Politik, Nr. 11, Hebbel am Ufer, Berlin, 26.05.2015, S. 10–13.

Birgit Rommelspacher: Rechtsextremismus und Dominanzkultur. In: Andreas Foitzik/Rudi Leiprecht/Athanasios Marvakis (Hg.): „Ein Herrenvolk von Untertanen“. Rassismus – Nationalismus – Sexismus. Duisburg: DISS 1992, S. 81–94.