Von Anja Michaelsen

„Blackness in the white imagination has nothing to do with black people.“
Claudia Rankine 

Im Juni 2015 verbreitete sich im Internet die Geschichte von Rachel Dolezal, einer weißen US-Amerikanerin, die sich jahrelang als Schwarz ausgegeben hatte. Dies sorgte nicht nur deshalb für Aufregung, weil sie bis dahin Vorsitzende einer Zweigstelle der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) – eine der ältesten, liberalen Civil-Rights-Organisationen in den USA – in Spokane, Washington war. Dolezal studierte außerdem mithilfe eines Stipendiums für Afroamerikaner*innen an der mehrheitlich Schwarzen Howard-Universität, war Lehrbeauftragte für African American Studies an der Eastern Universität (Washington), gab einen Afroamerikaner als ihren Vater und ihren Schwarzen Adoptivbruder als ihren Sohn aus und spezialisierte sich auf die Pflege und das Frisieren Schwarzer Haarstile. Der „Fall Dolezal“ wurde weithin als ein extremes Beispiel von Cultural bzw. Racial Appropriation diskutiert.

Kann die Aneignung von Rassifizierung anti-rassistisch sein? © Moshtari Hilal
Kann die Aneignung von Rassifizierung antirassistisch sein? © Moshtari Hilal

Ich kann hier die kritische Diskussion über Rachel Dolezal nicht umfassend darstellen. Die guten Argumente, die zum Teil bell hooks viel zitiertes Buch „Black Looks. race and representation“ (1992) in differenzierter Weise wiederaufnehmen, lassen sich vielerorts nachlesen (wie zum Beispiel hier, hier oder hier). Was ich zumindest kurz hervorheben möchte, ist der Umstand, dass am Beispiel Dolezal deutlich wird, wie Racial Appropriation unter bestimmten Bedingungen ganz konkret rassistische Strukturen materieller Benachteiligung verstärkt – etwa betreffend die Frage, unter welchen Voraussetzungen Dolezal ein Stipendium erhalten und eine berufliche Position eingenommen hat und an wessen Stelle. Unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich Dolezals Geschichte nicht wesentlich von der von Thomas Howell, der sich im US-Kinofilm „Soul Man“ (1986) einen durch Affirmative Action geförderten Studienplatz in Harvard erschleicht. Doch im Unterschied zu Howell scheint sich Dolezal auch nach ihrem „Auffliegen“ nicht als „Betrügerin“ zu verstehen. In einem Interview vom Dezember letzten Jahres erklärt sie erneut: „If somebody asked me how I identify, I identify as black. Nothing about whiteness describes who I am.“

Ich möchte die Aufmerksamkeit hier auf den Umstand richten, dass Dolezals Performance als Schwarz – im Anschluss an Toni Morrisons Beschreibungen einer Tradition US-amerikanischer Literatur als Annahme einer „afrikanistischen Persona“ zu verstehen – wesentlicher Bestandteil ihres explizit antirassistischen Engagements zu sein scheint. Im Unterschied zur strategischen Ausbeutung von Schwarzsein wie in „Soul Man“, aber auch zum rassistischen Blackface bzw. zum „Hipster-Blackface“ – in der Nachfolge von Norman Mailers „White Negro“(1) (1957), der Schwarzsein als Verkörperung von Authentizität und Lebendigkeit und zugleich als psychopathisch, kriminell und primitiv feiert – geschieht Dolezals Passing offenbar im Dienste eines Antirassismus, der es der NAACP ermöglicht, sie als bewährte Mitstreiterin zu unterstützen. Akteur*innen von Racial Appropriation wird häufig vorgeworfen, im Gegensatz zu Schwarzen Subjekten das Schwarzsein jederzeit ablegen und den damit einhergehenden Gewalterfahrungen, Stigmatisierungen und Diskriminierungen entgehen zu können, sich also die „positiven“ Aspekte herauszunehmen, aber nichts gegen die Realität und Struktur rassistischer Gewalt zu tun. Dolezals Anstrengungen jedoch, so scheint es, richten sich darauf, niemals wieder weiß zu werden. Mit Whoopi Goldberg wäre es also möglich, sich zurückzulehnen und Dolezal ihr Schwarzsein zuzugestehen: „As far as I’m concerned, if she wants to be black, she can be black … She’s been passing as this woman for over five years. If this bitch don’t know by now what it’s like …“

Antirassistische Racial Appropriation
Lässt sich Dolezals Passing als ein konsequenter Akt der Solidarisierung verstehen? Um eine solche Deutung nachvollziehen zu können, ist es sinnvoll zu fragen, woher die Vorstellung kommt, dass Solidarität mit marginalisierten Subjekten sinnvollerweise die Form von deren Verkörperung annehmen kann. Dolezals Performance reiht sich in eine Tradition eines weißen Antirassismus ein, der auf der Prämisse basiert: Um die Realität eines alltäglichen Rassismus zu verstehen und diesen im solidarischen Einsatz vermitteln zu können, ist es notwendig, Rassismuserfahrungen am eigenen Leib zu erfahren. Die Gefahr, Erfahrungen rassistischer Gewalt ausgesetzt zu sein, stellt in dieser Logik keine Grenze von Racial Appropriation dar, sondern trägt gerade zur Vervollkommnung der antirassistischen Perspektive bei.

So rasiert sich 1948 Ray Sprigle, Journalist aus Pittsburgh, den Kopf, sonnt sich und reist einen Monat lang durch die segregierten Südstaaten, unterstützt von einem Mitglied der NAACP. Er dokumentiert sein Experiment in einer 21-teiligen Artikelserie unter dem Titel „I Was A Negro In The South For 30 Days“. Nachdem die Segregation rechtlich 1954 aufgehoben wird, lässt John Howard Griffin, ein weißer Texaner, 1959 seine Haut medizinisch und kosmetisch verändern und reist seinerseits durch die ärmsten Gegenden der Südstaaten. Wie Sprigle dokumentiert Griffin seine Erfahrungen in seinem Buch „Black Like Me“ (1961). Davon inspiriert zieht Grace Halsell, Berichterstatterin am Weißen Haus unter John F. Kennedy, mit schwarzen Kontaktlinsen und Perücke 1968 erst nach Harlem und arbeitet dann als Hausangestellte in den Südstaaten. 1969 veröffentlicht sie ihren Bericht „Soul Sister“ (1969), das sich wie Griffins Buch millionenfach verkauft.

Im Gegensatz zu früheren fiktionalen antirassistischen Vermittlungsprojekten wie Harriett Beecher Stowes „Uncle Tom’s Cabin“ (1852) oder Willa Cathers „Sapphira And The Slave Girl“ (1940) authentifizieren Sprigle, Griffin und Halsell ihre Darstellung im autodokumentarischen Selbstversuch. Die zeitlich begrenzten journalistischen Experimente beabsichtigen, ein „cross-racial understanding“ voranzutreiben. In Deutschland begründet Günther Wallraff seine investigativen Verkörperungen als türkischer Arbeiter („Ganz unten“, 1985) bzw. als somalischer Migrant („Schwarz auf Weiß“, 2009) wie seine nordamerikanischen Vorgänger*innen damit, er wolle alltäglichen Rassismus für ein weißes – hier: deutsches – Publikum nachvollziehbar machen, indem er das erfahrene „Trauma des Schwarzseins“ am „eigenen Leib“ vermitttle.

Doch worin besteht die Plausibilität – und Attraktivität – der Annahme, antirassistische Aufklärung erfordere Verkörperung anstatt Analyse? Im Fall von John Griffin beschreibt Gayle Wald einen Prozess der „Selbsterfahrung“, die den Autor letztlich in seiner weißen Identität hervorbringt bzw. bestätigt. Als über die Erfahrung des (eigenen) Rassismus berichtender Autor nimmt Griffin zugleich eine Position ein, die Schwarzsein beobachtet, das heißt, er spaltet sich in „Schwarzen Teilnehmer“ und „weißen Beobachter“. Damit „meistert“ (verdinglicht) er nicht nur Schwarzsein, sondern beweist sich als souveränes weißes Subjekt, das in der Lage ist, über diese Erfahrung zu reflektieren und zu berichten. Diese Art der einfühlenden Selbstbestätigung erinnert an eine bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition sentimentaler Unterhaltung, in der die (verkennende) Identifikation mit dem Leiden marginalisierter Subjekte einem privilegierten Publikum ermöglicht, sich selbst als moralisch befähigt zu affirmieren. Im Anschluss lässt sich der antirassistische Selbstversuch also als eine Art sentimentaler Aufführung verstehen, in dem die Zuschauer*in zugleich ihre eigene Protagonist*in ist.

Der Schritt von der einfühlenden Betrachtung zur nachempfindenden Verkörperung scheint klein. Die Sentimentalitätsforschung weist darauf hin, dass das Bedürfnis nach Einfühlung als Reaktion auf eine empfundene Krisenhaftigkeit der eigenen moralischen Integrität zurückzuführen sei. Wenn Dolezal erklärt „Nothing about whiteness describes who I am“, dann legt dies eine Zurückweisung einer als krisenhaft empfundenen weißen Identität nahe, die in einem konzeptionellen Kurzschluss – innerhalb eines binären „Rassen“schemas in den USA – zur Annahme führt, Schwarz „sein“ zu müssen. Dolezals Performance wäre so von dem Begehren getrieben, einer weißen Identität entfliehen zu wollen, deren moralische Legitimation scheinbar infrage steht. Dabei geht es nicht um die psychische Disposition einer einzelnen Person, sondern um die mögliche Struktur eines generellen Begehrens nach Marginalisiertsein.

Die Vorstellung, dass eine historisch zumindest teilweise anders konstituierte Identität für den eigenen „Gebrauch“ zur Verfügung steht und dadurch eine dominante Position abgelegt werden könne, setzt gerade die belastete Privilegiertheit voraus, der zu entkommen versucht wird. Über die Vorstellung einer Verfügbarkeit der Welt hinausgehend, wird an der zirkulären Struktur von Racial Appropriation deutlich, was Claudia Rankine meint, wenn sie sagt, dass Schwarzsein in der weißen Vorstellung nichts mit Schwarzen Menschen zu tun habe – sondern lediglich die Ängste und Wünsche derjenigen veranschaulicht, die sich die afrikanistische Persona aneignen, wie mit Toni Morrison zu ergänzen wäre. Als solidarische, antirassistische Strategie ist dies nicht besonders brauchbar – andere Konzepte der Solidarität und auch der Empathie, jenseits von Verkörperungsfantasien, sind notwendig.

Anja Michaelsen ist Kultur- und Medienwissenschaftlerin.

Im Juli 2016 hat ein Beitrag von Hengameh Yaghoobifarah über das Fusion-Festival, Rassismus und „kulturelle Aneignung“/Cultural Appropriation für heftige Reaktionen gesorgt. Doch wie sprechen wir über Rassismus in Deutschland und in der Linken? Die Beiträge dieser Reihe sind im Rahmen einer gemeinsamen Suche nach Antworten von Redakteur*innen von Missy Magazine und „ak – analyse & kritik“ entstanden und sollen zu einer Auseinandersetzung mit Cultural Appropriation, Identitäten und Politik (in) der Differenz beitragen. Die Beiträge erscheinen teilweise auch in der Printzeitung von „ak“. Die Debatte wird fortgesetzt.

 

Anmerkung
(1) „The White Negro“ ist der Titel von Mailers affirmativem Essay über das Phänomen der Aneignung Schwarzer Kultur vor allem durch weiße junge Männer in den USA der 1920er- bis 1950er-Jahre. Der Grat zwischen einem Gewalt reproduzierenden und einem analysierenden Sprachgebrauch ist schmal und manchmal lässt sich das eine nur schwer vom anderen unterscheiden. Trotz bzw. in Auseinandersetzung mit der Kritik an rassistischer Sprache habe ich mich dazu entschieden, die problematische Bezeichnung für Schwarze Amerikaner*innen als Teil des Originaltitels hier und im Folgenden beizubehalten, um die Ambivalenz des weißen Begehrens nach einer gleichzeitig idealisierten und verworfenen Imagination von Schwarzsein zu erfassen, die sich, so meine ich, durch eine Abkürzung nicht vermittelt. Es geht darum, einen „kodifizierten Wahn“ kenntlich zu machen, wie ihn Achille Mbembe auch anhand des Begriffs nègre untersucht. Ich halte es für notwendig, auf der einen Seite unnötige Wiederholungen verletzender Begriffe, insbesondere zu sensationalistischen Zwecken, zu vermeiden, auf der anderen Seite sprachliche Bedeutungskomplexität und -historizität der kontextualisierenden Analyse zugänglich zu machen und dadurch auch sprachliche Verletzungsmacht als kontextbedingt und historisch spezifisch verstehen zu können.

 

Zitierte Literatur
Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess. New Haven, London 1976.

Laura Browder: Slippery Characters. Ethnic Impersonators and American Identities. Chapel Hill, London 2000.

bell hooks: Black Looks. race and representation. Boston, MA 1992.

Achille Mbembe: Critique de la raison nègre. Paris 2013.

Toni Morrison: Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination. Reinbek bei Hamburg 1994 (im Original 1992).

Gayle Wald: „A Most Disagreeable Mirror“. Reflections on White Identity in Black Like Me. In: Elaine Ginsberg (Hg.): Passing and the Fictions of Identity. Durham, London 1996, S. 151–177.

Linda Williams: Playing the Race Card. Melodramas of Black and White from Uncle Tom to O. J. Simpson. Princeton 2002.