Von Dominique Haensell

Um es mit den weinerlichen Worten Coldplays zu sagen: Nobody said it was easy. Klar, es sind schwierige, aber auch irgendwie aufregende Zeiten. Es passiert etwas, Dinge verändern sich, manchmal auch zum Besseren. Neulich bin ich an einem „B.Z.“-Zeitungsstand vorbeigelaufen, auf dem Titelblatt: „Lassen Sie uns über Sexismus reden.“ Im Berliner Krawallblatt des Springer Verlags. Was kommt als Nächstes – „So rassistisch ist Deutschland“? Irre.

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Fragile Männlichkeit im Selbstgespräch © Moshtari Hilal

Auch wenn wahrscheinlich genug Mangel- und Zweifelhaftes darin stand, ist auch so etwas eine Art Fortschritt – ein Fortschrittchen, wenn man so will. Vielleicht bin ich gerade auch nur trunken vor Begeisterung über die erfolgreichen Proteste gegen das Abtreibungsgesetz in Polen, von wo sonst eher wenig erfreuliche politische Meldungen kommen. Das ist es ja: Dinge, die sich emanzipatorisch wandeln, sind an regressive und bedrohliche Entwicklungen gebunden. Und während auf meiner inneren Deutschlandkarte immer mehr weiße Stellen entstehen, die ausradiert werden wie in Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ (Bautzen, Zorneding, die Ringbahn zwischen Ostkreuz und Landsberger Allee), löst ein polemischer Kommentar zum Fusion-Festival auf der Webseite von Missy Magazine eine Sturmflut weißer Tränen aus, werden Freund*innen von mir mit rechten Ethnopluralist*innen verglichen. Fuck that.

Eigentlich könnte es mir egal sein. Es wird sowieso weitergewettert werden, gegen Identitätspolitik, Authentizitätsfetischismus oder Tugendfuror – aber tatsächlich werden die Fragen, die Critical Whiteness und andere antirassistische Theorien aufgreifen, nicht verschwinden, sondern im Gegenteil immer weitere Kreise ziehen. Da wird auch noch so wütende Gegenrede nichts helfen. Die generelle Fließrichtung dieses weitverzweigten, an manchen Stellen auch mal stockenden Diskurses lässt sich nicht aufhalten. Aber an diesem Punkt wünsche ich mir, es gäbe aufseiten der Linken mehr Bereitschaft zu konstruktivem Dialog und Zusammenarbeit anstelle der ohnehin vergeblichen Abwehrversuche. Wie also lassen sich Koalitionen bilden, die einerseits flexibel und komplex, andererseits strapazierbar genug sind, um unvermeidliche Widersprüche auszuhalten?

Was soll antirassistische Arbeit eigentlich sein?
Vielleicht zuallererst die Frage: Was soll antirassistische Arbeit eigentlich sein? Vor allem grundsätzlich antirassistisch, könnte man meinen. Dass dies aber nicht unbedingt der Fall ist, dass also Räume, Gruppen, Bewegungen, die sich selbst als Gegengift zu Rassismus verstehen, diesen dennoch reproduzieren können, gehört zu den großen Entzauberungen dieser Tage. Ähnlich enttäuscht, so meint der US-Historiker Robin Kelley, seien diverse Schwarze Protestgruppen von ihren Universitäten, die sie sich fälschlicherweise als aufgeklärte, vorurteilsfreie Räume vorgestellt hatten. Nun lassen sich Institutionen zwar nur begrenzt mit linken Strukturen vergleichen, die Kluft zwischen idealisiertem Selbstverständnis und gelebter Realität klafft in manchen Fällen jedoch ähnlich weit auseinander.

Obgleich wir an der unentbehrlichen Utopie festhalten müssen, muss klar sein: Es gibt keine postrassistischen Räume in einer rassistischen Gesellschaft. Stattdessen muss es Schwarze oder PoC-Räume (People of Color) geben, die selbstbestimmte Gruppenidentität stiften. Was an diesen Orten entsteht, beißt sich womöglich auf den ersten Blick mit dem wie auch immer gearteten poststrukturalistischen Idealbild einer hybriden (gemischten bzw. sich durch unterschiedliche Einflüsse beständig wandelnden und entwickelnden), postethnischen Gesellschaft. Aber erstens ist die Realität nun mal kein Wunschkonzert und zweitens ist die saubere Unterscheidung in böser Essenzialismus (die Vorstellung, dass Begriffe, Identitäten etc. einen – unveränderlichen, wahren – „Wesenskern“ besäßen) und gute Hybridität nicht nur willkürlich, sondern auch historisch falsch.

Begriffsgeschichtlich lässt sich Letztere dem britischen Historiker Robert J. C. Young zufolge niemals gänzlich von ihren sozialdarwinistischen Ursprüngen lösen. Soll heißen, die Idee der kulturellen Vermischung oder Auflösung funktioniert nur vor der impliziten Annahme einer imaginierten Reinheit – „reiner Kulturen“, „reiner Identitäten“. Diese Annahme bleibt stets der Rattenschwanz dieser Denkfigur. Wer auch immer am lautesten nach der Auflösung fixer Identitäten ruft, sollte zudem kurz hinterfragen, warum ihm oder ihr dies so leichtfällt. Ein wenig erinnert nämlich diese Debatte auch an den in poststrukturalistischen Kreisen vollmundig eingeläuteten „Tod des Autors“ in den 1970er-Jahren – der just in dem Moment ausgerufen wurde, an dem weibliche und nicht-weiße Autor*innen die Bühne betraten und die ihrerseits vielleicht gern etwas von der angestaubten Autorenautorität gehabt hätten.

Die Sache mit den Identitäten
In den 1980ern wiederum verwies die Literaturwissenschaftlerin und Postkolonialismus-Theoretikerin Gayatri C. Spivak auf den strategischen Essenzialismus subalterner Subjekte – also die vorübergehende Annahme kollektiver Identitäten – als durchaus erfolgreiche politische Taktik. Wohlwissend also, wie schädlich und grob vereinfachend die Idee einer homogenen Gruppe ist, könne es zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Kontexten wichtig sein, eine solche Identität zu beanspruchen und somit effektive politische Einheiten zu bilden. Dass es in jedem Fall besser ist, die Erzählung über eine bestimmte Gruppe, wenn sie sich denn schon nicht auflösen lässt, zumindest selbst zu bestimmen, leuchtet ohnehin ein. Geht es um eine so übergreifende Identität wie bei People of Color, tritt vor allem die gemeinsame Geschichte des Widerstands in den Vordergrund sowie die Entwicklung dessen, was die Theoretikerin Chela Sandoval „Oppositional Consciousness“, oppositionelles Bewusstsein, genannt hat. 

Auf einer unmittelbareren Ebene ist es aber auch wichtig, dass Subjektivität nicht nur ex negativo, also in Opposition zur Dominanzkultur entwickelt wird. Dafür eignen sich vor allem identitätsstiftende Geschichte und Kultur. Das Zelebrieren bestimmter Haar-, Kleidungs- oder Musikstile ist dabei nicht naturalisierend, sondern Zeugnis einer lebendigen, wandelbaren und vor allem selbstbewussten Tradition. Trotzdem – oder vielleicht genau deswegen – sind Schwarze Communitys in meiner Erfahrung wahre Paradebeispiele für gelebte Differenz. Dort werden unermüdlich Unterschiede und Hierarchien, ob bezüglich des Alters, der Sexualität oder des Geschlechts, offen und aktiv verhandelt. Davon abgesehen ist das Demontieren von Stereotypen ein wesentliches Anliegen antirassistischer Arbeit und einer groben Homogenisierung somit diametral entgegengesetzt. Eine starke politische Identität entsteht genau dadurch, dass Vielfalt gelebt, Widersprüche ausgehalten werden. Sei es auf lokaler, nationaler oder transnationaler Ebene: Differenz ist Motor und Modus Operandi der Schwarzen Diaspora.

Für die antirassistische Arbeit innerhalb einer Schwarzen Gruppe heißt das dennoch konkret: Ja, wir sind durch diese Gesellschaft rassifiziert worden und auf Grundlage ebendieser Identität bauen wir auf, artikulieren Missstände und spenden Support. Und was bleibt einer auch anderes übrig, als selbstbewusst Identität zu beanspruchen? In dem Moment, in dem ein Mensch in Deutschland aufgrund seiner Hautfarbe ermordet wird, wird meine Identität zu einer politischen, da kann ich mich selbst als unpolitisch oder farbenblind oder postnational sehen, so viel ich will. 

Gestrampel und Geschrei
Dass dank Ansätzen der Critical Whiteness dasselbe nun auch für weiße Personen gelten soll, dass auch sie „eine Hautfarbe bekommen“, empfinden viele als irgendwie unfair. Julia Lemmle, Coach und Critical-Whiteness-Trainerin, bezeichnet ihre Arbeit daher auch als eine Art „Puffer“. Bevor gänzlich unreflektierte weiße Aktivist*innen auf PoC-Gruppen treffen, bietet sie Raum zum Selbsterfahren und Hinterfragen. Lemmle ist immer wieder überrascht, wie viele Aggressionen das freisetzt: „Natürlich wehren sich weiße Menschen zunächst dagegen, als weiß und privilegiert zugeordnet zu werden, da sie es gewohnt sind, sich Zuschreibungen zu entziehen und die ‚Anderen‘ zu benennen und zu bezeichnen. Zu hören, dass sie Rassismus verinnerlicht haben und (re-)produzieren, auch wenn sie dies nicht bewusst wollen, entspricht nicht dem eigenen Selbstbild und löst erst einmal viel Widerstand aus.“

Dabei geht es aber auch darum, nicht in einer Schuldfalle stecken zu bleiben oder sich auf einer rein abstrakten Ebene gegenseitig Kritik an den Kopf zu werfen. Denn obgleich der Begriff des Privilegs erst einmal rosig klingt und reale Vorteile bringt, gibt es in einer ungerechten Gesellschaft keine echten „Gewinner*innen“. Anders ausgedrückt: Die Aufrechterhaltung einer solchen Gesellschaft ist mit Anstrengungen verbunden und geht mit einer ständigen Paranoia einher. Wie fragil diese Struktur ist, sieht man am hysterischen Gestrampel und Geschrei weißer Männer weltweit, sobald jemand ihrer für selbstverständlich genommenen Normalität einen Kratzer zufügt. Das ist zwar in keiner Weise vergleichbar mit dem ganz realen Überlebenskampf vieler People of Color, macht aber deutlich, wie tiefgreifend die Beschädigung aller in einem kaputten System ist. Wer sich über seine gesellschaftliche Position, Verantwortung und Wirkmacht nie richtig Gedanken gemacht hat, ist auch nicht wirklich zu beneiden.

Koalitionen und Safe Spaces
Handlungsfähige politische Koalitionen entstehen laut Lemmle durch den echten, respektvollen Kontakt zwischen Menschen, die sich auch auf emotionaler Ebene mit sich selbst auseinandergesetzt haben. Dazu gehört ein Verständnis davon, wie Rassismus und Rassifizierung funktionieren.

Damit greift Lemmle die oft zitierte Kritik auf, zeitgenössische Emanzipationsbewegungen würden den Kampf zu sehr ins Psychologisch-Emotionale verlagern und strukturelle Zusammenhänge ausblenden. Nun ist diese Kritik weder neu, noch muss sie von außen herangetragen werden; interne Debatten der Bürger*innenrechtsbewegung oder der Black Studies widmen sich dieser Frage seit Jahr und Tag. Es ist tatsächlich auffällig, wie sehr die Bedeutung psychologischer Traumata, ein auf wundersame Weise ebenso individueller wie abstrakter Zugang zu kollektivem Schmerz, die Rhetorik mancher antirassistischer Arbeit bestimmt. Das ist angesichts einer gewaltvollen Geschichte und Gegenwart aber nicht verwunderlich. Natürlich wäre es limitierend, wenn sich antirassistische Arbeit ausschließlich auf Safe Spaces und psychologischen Support reduzierte. Das ist aber weder der Fall, noch stehen persönliche Heilung und individuelle Erfahrungen in einem notwendigen Widerspruch zu kollektiven Visionen und strukturellen Lösungen.

Auch hier lohnt der Blick zurück in die jüngere Schwarze Geschichte. 1981 hielt die Sängerin und Aktivistin Bernice Johnson Reagon eine Rede über Koalitionspolitik im 21. Jahrhundert. Anlass war das West Coast Women’s Music Festival in Kalifornien, ein Event, das vielleicht ähnlich großes Enttäuschungspotenzial besaß wie heute die Fusion. Zu einem Zeitpunkt, als die Interventionen des Third Wave Feminism (1) noch fromme Wünsche waren, sah sich Reagon dort mit einem mehrheitlich weißen Publikum konfrontiert, für das die Universalkategorie „Frau“ eine ziemlich normative Angelegenheit war. Auch damals ging es um das Artikulieren von und das Arbeiten mit Differenz innerhalb einer politischen Bewegung. Jenseits eines limitierenden Modells von Identity Politics wies Reagon dennoch auf die Notwendigkeit – und Begrenztheit – exklusiver Räume hin. Die Kernmetapher ihrer Rede war die des „barred room“, also des abgeschlossenen Raumes. Reagon unterschied dabei zwischen dem warmen Gefühl der Sicherheit, das uns der „Home Space“ eines geschlossenen Raumes schenken kann, und der unangenehmen und anstrengenden Koalitionsarbeit, die aber dennoch stets angestrebt werden müsse. Denn obgleich jene Räume empowernd wirken, helfen sie uns längerfristig nicht dabei zu überleben. 

Antirassistische Arbeit ist nicht angenehm, das hört man den Worten „struggle“ und „resistance“ bereits an. Heilsam kann sie trotzdem sein, vorausgesetzt es sind nicht immer dieselben, die sich dabei aufreiben oder unnötig verletzt werden. Frei übersetzt mahnt Reagon: „Koalitionsarbeit findet nicht bei dir daheim statt, Koalitionsarbeit muss in den Straßen passieren. Und es ist die vielleicht gefährlichste Arbeit, die du tun kannst.“ Nobody said it was easy.

Dominique Haensell ist Literaturwissenschaftlerin und Journalistin.


Im Juli 2016 hat ein Beitrag von Hengameh Yaghoobifarah über das Fusion-Festival, Rassismus und „kulturelle Aneignung“/Cultural Appropriation für heftige Reaktionen gesorgt. Doch wie sprechen wir über Rassismus in Deutschland und in der Linken? Die Beiträge dieser Reihe sind im Rahmen einer gemeinsamen Suche nach Antworten von Redakteur*innen von Missy Magazine und ak – analyse & kritik entstanden und sollen zu einer Auseinandersetzung mit Cultural Appropriation, Identitäten und Politik (in) der Differenz beitragen. Die Beiträge erscheinen teilweise auch in der Printzeitung von „ak“.

Anmerkung
(1) Third Wave Feminism bezeichnet – in Abgrenzung zur zweiten Welle der Frauenbewegung ab den 1960er-Jahren – feministische Ansätze, die in den 1990ern vor allem in den USA entstanden sind und sich u. a. an den Thesen Judith Butlers, Rebecca Walkers oder Audre Lordes orientieren. Sie stellen die Analyse gesellschaftlicher Geschlechterkonstruktionen in den Mittelpunkt. Queere Politiken, die gängige Geschlechternormen angreifen, (sub-)kulturelle Ansätze wie die Riot-Grrrl-Bewegung oder die Ladyfeste, aber auch eine Kritik an den universalistischen Ideen eines überwiegend weißen Feminismus durch Women of Color zeichnen diese feministischen Ansätze aus.