Von Sophie Charlotte Rieger

In meinem ersten Berlinale-Tagebuch stellte ich die These auf, dass der diesjährige Festivaldurchgang ein besonders starker werden könnte. Schon jetzt – und es fehlen noch einige Tage und vor allem einige Filme – ist diese Vermutung Gewissheit. In nunmehr fünf Jahren Berlinale-Berichterstattung hatte ich noch nie derartig viele Favoritinnen. Drei davon stelle ich heute vor.

© Robert Paêka
© Robert Paêka

Pokot

Die Teilzeitlehrerin, Hobbyastrologin und engagierte Tierschützerin Duszejko lebt abgeschieden am Waldrand. Von ihren wiederholten Versuchen abgesehen, die örtliche Jagdgesellschaft bei der Polizei anzuschwärzen (vergeblich), führt sie ein ruhiges Leben, bis eine geheimnisvolle Mordserie im Wald wie in der Stadt für Unruhe sorgt.

Agnieszka Holland inszeniert quasi einen skandinavischen Krimi in Polen, der sich mit viel trockenem und bissigem Humor um die Aufklärung eines Verbrechens dreht, inklusive falscher Fährten und einem explosiven Finale. Dabei erzählt „Pokot“ jedoch viel mehr als nur die Geschichte einer Umweltschützerin an der Grenze zwischen passioniertem und militantem Aktionismus. Die freilich ausschließlich männlich besetzte Jagdgesellschaft steht auch stellvertretend für patriarchale Gesellschaftsstrukturen. So erhält Duszejkos privater Kleinkrieg eine politische Dimension, sie nimmt die Korruption von Polizei und (katholischer) Kirche wie auch Sexismus kritisch unter die Lupe.

Damit gelingt der Regisseurin nahezu die eierlegende Wollmilchsau unter den Berlinale-Filmen: eine unterhaltsame Komödie, ein spannender Krimi und ein Sozialdrama in einem.

@ Fabula
© Fabula

Una Mujer Fantástica

Sebastián Lelio, unter dessen Regie sich 2012 fast die ganze Berlinale in seine Filmheldin „Gloria“ verliebte, kehrt mit einem weiteren Frauenporträt in den Wettbewerb zurück, das sich wie auch der vorhergehende Film voll und ganz seiner Hauptfigur verschreibt. Die Sängerin Marina ist als Transfrau nach dem Tod ihres Lebensgefährten nicht nur hochgradig verletzenden Anfeindungen durch die Familie des Verstorbenen ausgesetzt, sondern auch Verdächtigungen durch die Polizei. Statt zu trauern, Abschied nehmen zu können und den Schock dieses plötzlichen Todes zu überwinden, wird Marina von den verschiedenen Parteien nahezu gejagt. Dabei ist für das Kinopublikum von Anfang an klar, dass es sich hierbei nicht um berechtigte Skepsis, sondern ausschließlich um transfeindliche Gesellschaftsstrukturen handelt.

Die Zuschauer*innen haben keinerlei Wissensvorsprung, erleben genau das, was auch Marina erfährt. Umso bedauerlicher, dass Sebastián Lelio den Körper seiner Heldin in zwei Momenten unnötigerweise dem Voyeurismus des Publikums aussetzt, anstatt die entsprechenden Szenen aus Marinas Perspektive zu filmen. So verteidigt sich Marina, die in fast jeder Szene des Filmes zu sehen ist, zwar auf der Dialogebene gegen grenzüberschreitende Fragen zu ihrem Körper, doch auf der Bildebene wird dann doch die Schaulust der Zuschauer*innen befriedigt. Schade auch, dass Sebastián Lelio seiner Heldin nicht ansatzweise so viel Energie und Optimismus zugesteht wie einst „Gloria“. Erst ganz am Ende schenkt er Marina einen Moment der Hoffnung.

Lelio bemüht sich hier sichtlich um ein intimes und respektvolles Porträt. Es geht ihm um Sensibilisierung für das Thema, vor allem aber um bedingungslose Akzeptanz. Deshalb steht „Una Mujer Fantástica“ trotz der genannten Kritikpunkte auf meiner Favoritinnenliste.

© Netflix / Michael Latham
© Netflix/Michael Latham

Casting JonBenet

Zuletzt noch ein Abstecher in die Panorama-Sektion, von der ja viele Kolleg*innen sagen, dass sie in den vergangenen Jahren in ihrer Qualität stark nachgelassen hätte. Ein paar Highlights gibt es dann doch. Eines davon ist „Casting JonBenet“.

„Casting JonBenet“ von der australischen Regisseurin Kitty Green („Ukraine Is Not A Brothel“) ist ein filmisches Experiment, das den Versuch unternimmt, das Unfassbare zu begreifen: den brutalen Mord an einem 6-jährigen Mädchen, der titelgebenden JonBenet. Kitty Green nähert sich diesem bis heute ungeklärten Verbrechen mit einer Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm an. Sie macht ihren Casting-Prozess transparent, lässt die Schauspieler*innen über ihr persönliches Verhältnis zu der Geschichte sprechen, einzelne Szenen anspielen und Theorien zur Klärung des Falles formulieren. Das Ergebnis ist eine Stimmenvielfalt, die der Komplexität der Realität, der Unmöglichkeit einfacher Antworten auf schwierige Fragen gerecht werden kann. Auch die Wiederholung einzelner Szenen mit unterschiedlichen Darsteller*innen bildet die multiplen Möglichkeiten ab, wie sich das dramatische Ereignis abgespielt haben könnte, und erschafft darüber hinaus eine manchmal kaum zu ertragende Intensität. Wir sehen den Moment, in dem John Ramsay seine tote Tochter findet, nicht nur ein-, sondern mehrmals hintereinander. Obwohl er nur eine leere Decke in den Armen hält, sorgt dieser Anblick für Gänsehaut.

„Casting JonBenet“ ist ein herausragender Film. Er bemüht sich um eine neue Art der filmischen Aufarbeitung, die sich zwar mit der Realität beschäftigt, jedoch keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt und das Publikum sowohl auf kognitiver als auch auf emotionaler Ebene ansprechen kann.

Sophie Charlotte Rieger arbeitet als freie Filmkritikerin und Journalistin. Auf ihrem Blog „Filmlöwin“ widmet sie sich ganz dem feministischen Blick auf Film. Dieses Jahr ist sie für uns auf der Berlinale unterwegs und führt ein Festivaltagebuch.

Bei so vielen guten Filmen muss eines sich fragen: Kann es überhaupt noch besser werden? Ja, es kann. Zum Beispiel mit Sally Potter. Aber davon erzähle ich euch beim nächsten Mal.