Von Sonja Eismann

Die preigekrönte israelische Comiczeichnerin Rutu Modan vertieft sich in ihrem neuen Buch in die Geschichte ihrer Großmutter – und zeichnet ihre Figuren trotz der Tragik der Shoah mit viel Humor.

Rutu Modan „Das Erbe“ Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer. Carlsen, 240 S., 24,90 Euro.

MISSY MAGAZINE: Stimmt es, dass Sie bereits als kleines Kind die Liebe zu Comicstrips im Wartezimmer Ihres Zahnarztes entdeckt haben?
Rutu Modan: Als ich klein war, konnte man in Israel fast überhaupt keine Comics finden. Im Wartezimmer meines Zahnarztes gab es ein paar Ausgaben von „Tex“, einem Cowboy-Comic, aber das war schon alles. Eine Ausgabe von „Tim & Struppi“ wurde ins Hebräische übersetzt, aber die war offensichtlich kein Erfolg, denn alle anderen Ausgaben wurden nie veröffentlicht. Die Wahrheit ist, dass ich Comics schrieb und zeichnete, lange bevor ich überhaupt Comics las. Mit fünf machte ich einen Strip über ein Mädchen in meinem Kindergarten, das mir den Boyfriend geklaut hatte. Ich zeichnete diese Story als Racheakt! Es ging darin um sie, wie sie mit riesigen Kakerlaken kämpfen musste. Meine ganze weitere Kindheit über schrieb ich illustrierte Geschichten. Während des Krieges 1973 verfasste ich eine Story über einen Krieg in einem imaginären Land. Es ist heute für mich interessant zu sehen, wie ich als Kind meine Umgebung wahrgenommen habe.

Warum ist die israelische Comicszene, von der Sie als Mitbegründerin des mittlerweile wieder verblichenen Actus-Tragicus-Kollektivs ja ein wichtiger Teil sind, Ihrer Meinung nach so produktiv?
In Wirklichkeit gibt es gar keine lebhafte israelische Comicszene. De facto gibt es so gut wie gar keine Szene. Das Medium ist in Israel noch relativ neu und wird als Spartenphänomen betrachtet. In Interviews werde ich immer noch Dinge gefragt wie: „Aber sind Comics nicht etwas für Kinder? Sollte das nicht eigentlich lustig sein?“ Aber natürlich gibt es hier sehr viele talentierte junge ZeichnerInnen und ein paar ältere so wie mich. Die Situation verändert sich langsam. „Das Erbe“ wurde viel positiver besprochen als „Exit Wounds“, das ich vor ein paar Jahren herausgebracht habe.

Die Strips, die Sie für die „New York Times“ gezeichnet haben, sind oft sehr lustig, fast komödiantisch, auch in ihrer Zeichnung der Geschlechterbeziehungen. Wohingegen Ihre Werke auf Buchlänge sich eher den „schweren“ Themen wie familiärem Verlust, Nahostkonflikt, Shoah annehmen.
Das Wort „schwerer“ würde ich nicht benutzen, aber vielleicht sind die Themen komplizierter und ambivalenter. Nicht, weil ich sie passender oder würdiger finde, sondern weil man auf der Strecke eines Buches die Zeit und den Raum hat, eine Geschichte intensiv zu entwickeln. Und damit meine ich nicht nur die Seitenlänge des Buches, sondern auch die Zeit, die ich als Künstlerin auf das Projekt verwende und in der ich mich als Individuum verändere. Ich finde eigentlich, dass ich in den Büchern den gleichen Sinn für Humor und Ironie an den Tag lege wie in meinen Short Storys. Meine Sicht aufs Leben kommt doch in allen Geschichten durch.

Buchcover: Carlsen

Wie schmerzhaft war es, für „Das Erbe“ in die eigene Familiengeschichte einzutauchen? Oder war es eher heilsam?
Schreiben ist immer ein Heilungsprozess. Wenn man einen Charakter oder ein Ereignis beschreibt, muss man ihn verstehen und sich mit ihm identifizieren, um alle Ecken und Kanten zu sehen, die lustigen wie die traurigen Punkte wahrzunehmen. Während ich meine Hauptperson Regina – die nicht meine Oma ist, aber stark von ihr beeinflusst wurde – beschrieb und zeichnete, fühlte ich mich meiner Oma näher als zu Lebzeiten. Damals nahm ich sie nur als Großmutter wahr und nicht als eigenständige Person.

Haben Sie mit Ihrer Familie vor und nach der Publikation des Buches viel diskutiert? Nein, aber sie wussten, dass ich einige unserer Familiengeschichten für dieses Buch verwenden würde, und sie waren ganz schön neugierig! Sie waren ein bisschen enttäuscht, als sie erfuhren, dass es ein fiktives Werk und eben keine Dokumentation unserer Familienhistorie sein sollte und sie so nicht zu HeldInnen des Comics werden würden. Letzten Sonntag traf ich übrigens meinen Onkel, und er bestand darauf, die alte Dame aus dem Buch „Gitel“ zu nennen, was der Name seiner Mutter, also meiner Oma war, obwohl die Figur in „Das Erbe“ doch Regina heißt …

Sind Sie zum Recherchieren nach Polen gefahren?
Ich bin dreimal nach Polen gereist. Ich wusste rein gar nichts über das Land, obwohl mein Vater dort geboren wurde und meine komplette Familie von dort stammt. Vielleicht lag es an den Umständen, unter denen sie das Land verlassen mussten, und daran, was danach passierte, dass meine Großmütter Polen nie erwähnten. Sie sprachen nie über die Vergangenheit. Sogar in den 1990er-Jahren, als Polen wieder für TouristInnen geöffnet wurde und Israelis begannen, auf der Suche nach ihren Wurzeln dorthin zu reisen, weigerten sich meine Omas, einen Fuß in diesen „riesigen Friedhof“ zu setzen. Als ich dann nach Warschau kam, war es wie ein Blind Date. Ich habe mich dort sehr wohlgefühlt. Obwohl es komplett anders aussieht, hat es mich an Tel Aviv erinnert, irgendetwas in der Atmosphäre, dem Rhythmus, der Art, wie Geschäfte aussehen, wie Leute sich behandeln. 60 Prozent aller Israelis sind ursprünglich aus Polen, sodass der Einfluss wahrscheinlich größer ist als gemeinhin angenommen. Alle Leute, mit denen ich zu tun hatte, waren sehr nett und kooperativ. Vermutlich gibt es auch Antisemitismus, aber ich habe keinen zu spüren bekommen.

Die Charaktere in Ihren Comics sind oft nicht besonders liebenswürdig. Ist das Absicht?
Meiner Meinung nach werden Menschen von ihren Interessen und ihrem Charakter getrieben. Wenn diese kollidieren, bekommt man einen Konflikt, der entweder komisch oder tragisch ist. Die besten Storys – vielleicht ist das auch nur mein Geschmack – sind die, in denen Tragik und Komik kombiniert sind. Daran orientiere ich mich in meinen Werken.

Gab es während der Entstehung des Comics ein besonders prägendes Ereignis?
Als ich das erste Mal nach Warschau fuhr, begleitete mich meine Schwester. Wir wollten das zeitgenössische Warschau kennenlernen und nicht auf eine Spurensuche gehen. Also keine Denkmäler, keine KZs, keine Synagogen. Als wir ankamen, suchten wir uns ein nettes Café in unserem Reiseführer aus und fuhren mit einem Taxi direkt dorthin. Nach zehn Minuten fanden wir uns inmitten der Reste des jüdischen Ghettos wieder – es war eine Ironie des Schicksals.

Rutu Modan ist neben anderen bemerkenswerten Frauen wie Geneviève Castrée und  Peggy Adam beim diesjährigen Comicfestival in Hamburg zu Gast. Alle Infos zum Festival gibt es hier.
MISSY verlost: einen Platz auf der Gästeliste für die Comicfestival-Party am 05. Oktober ab 21.30 Uhr im Centro Sociale in Hamburg + einen Comicfestival-Jutebeutel + eine von Rutu Modan selbst signierte Ausgabe von „Das Erbe“ – und das Ganze zweimal!
Schreibt dafür bis zum 02. Oktober um 17 Uhr eine E-Mail an: verlosung@missy-mag.de.