Eine Mutter, die den gemeinsamen Sohn nach der Trennung beim Vater lässt, muss doch herzlos sein. Anna-Lena Wenzels Mutter hat in den 1970er Jahren genau das getan – weil sie glaube, dass es das Beste für ihren Sohn sei. Ein Protokoll.

Als ich das Theaterstück „Der Kaukasische Kreidekreis“ sah, war ich wie vor den Kopf gestoßen: Genauso hin und hergerissen fühlte ich mich als Mutter auch, als ich mich 1975 entschied, mich von meinem Mann zu trennen und ihm das Sorgerecht unseres gemeinsamen Sohnes zu überlassen – deinem Halbbruder.

Ich war damals 28, beruflich involviert und leitete einen Kindergarten, während der Vater in dieser Zeit mehr für unseren Sohn da war. Also entschied ich mich auszuziehen. Damals galt noch das Schuldrecht, das besagte, dass derjenige, der sich entscheidet, sich zu trennen, „schuld“ ist. Doch da mein Mann noch während wir verheiratet waren eine Beziehung mit meiner damals besten Freundin einging, waren wir vor Gericht beide „schuldig“.

Abgesehen von der rechtlichen Situation, die für mich glimpflich ausfiel, war ich überrascht, wie viel Unverständnis und Ablehnung mir dieser Schritt bei anderen einbrachte. Damals war es nicht selbstverständlich sich scheiden zu lassen, und schon gar nicht, als Mutter auf das Sorgerecht zu verzichten. Nicht mal meine eigenen Eltern standen zu mir.

Hinzu kam, dass die neue Frau meines Ex-Mannes sich gegen mich stellte und mir das Besuchsrecht für meinen Sohn verweigerte. Das hat mich sehr angegriffen, diese Vorwürfe, ich sei keine gute Mutter. Dabei wollte ich doch nur, dass es meinem Sohn gut geht.

Ich habe dann einige Jahre lang fast gar keinen Kontakt zu meinem Sohn gehabt. Umso erleichterter war ich, dass wir schnell wieder ein gutes Verhältnis hatten, als wir uns Jahre später wieder regelmäßiger sahen.

Auch heute noch gilt die Devise: du musst als Mutter um dein Kind kämpfen, auch wenn es für dieses gar nicht unbedingt das Beste ist. Ich würde mir manchmal wünschen, dass sich Eltern mehr zurücknehmen, so wie ich mich ein Stück weit zurückgenommen habe. Doch meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass ein Verzicht auf das Sorgerecht schnell als Desinteresse und Egoismus ausgelegt wird.

Als Pflegefamilienbetreuerin habe ich diesen Konflikt oft mitverfolgen können: wie schwer den Eltern die Besuche bei ihren Kindern fallen und wie hart es zum Teil ist mitanzusehen, wie das eigene Kind bei einer fremden Familie aufwächst, auch wenn es da vielleicht besser aufgehoben ist. Da wurde mir noch mal deutlich, dass es keine pauschale Lösung geben kann, sondern von Einzelfall zu Einzelfall geschaut werden muss. Sich dabei nicht von eingefahrenen Rollenbildern leiten zu lassen, ist auch heute noch eine Herausforderung.

Protokoll: Anna-Lena Wenzel