Von Annette Walter

Ein Film über eine alternde Frau ohne dümmliche Klischees, ein Abtreibungsdrama ohne Lösung, Greta Gerwig in Bestform, ein beklemmendes Kostümdrama über Emily Dickinson, eine ungewöhnliche Ingeborg-Bachmann-Huldigung und ein Geschlechter-Klassiker.

Isabelle Huppert. © Berlinale Filmstills
Isabelle Huppert. © Berlinale Filmstills

L’avenir
Mia Hansen-Love erzählt in „L’avenir“ tatsächlich eine universelle und anrührende Geschichte über das meist klischeeverseuchte Thema „Frau wird alt“, das man eigentlich schon satt hat. Dieser Wettbewerbsbeitrag lohnt sich aber, weil die Regisseurin platte übliche Erzählmuster vermeidet.

In „L’avenir“ steht Nathalie (Isabelle Huppert) mit geschätzt Mitte 50 vor einem vermeintlich verkorksten Leben: Ihr Mann verlässt sie für eine jüngere Frau, ihre SchülerInnen boykottieren den Unterricht, ihre Philosophie-Bücher über Adorno und Horkheimer mustert ihr Verlag als überambitioniert aus und ihre Mutter, die sie zuvor mit ihren exzentrischen Anwandlungen schikaniert hat, stirbt.

Aber zum Glück ist „L’avenir“ keine Leidensgeschichte: Nathalie ist kein Opfer und wie die schwarze Katze, die ihr die Mutter vererbt und die ihr erst lästig ist, aber dann ans Herz wächst: Egal, wie tief sie fällt, sie landet immer wieder auf den Füßen.

Sogar ihr Spruch, Frauen über vierzig seien reif für die Mülltonne, klingt angenehm selbstironisch statt fatalistisch. Und wird von ihrem ehemaligen Schüler (Roman Kolinka) natürlich sofort mit einem Kompliment quittiert, in dessen Landkommune Nathalie sogar zeitweilig Zuflucht sucht. Wer die Gabe besitzt, sich den Desillusionierungen des Lebens so unlädiert und stoisch zu widersetzen wie Nathalie, kann glücklich altern. Eine beruhigende Botschaft.

Julia Jentsch und Bjarne Mädel. © Friede Clausz
Julia Jentsch und Bjarne Mädel. © Friede Clausz

24 Wochen
Nicht nur mit Down-Syndrom, sondern auch mit einem schweren Herzfehler soll das Baby von Astrid (Julia Jentsch) auf die Welt kommen. Abtreiben oder austragen? Das ist die schwierige Entscheidung, vor der sie mit ihrem Mann Markus (Bjarne Mädel) im Film „24 Wochen“, übrigens der einzige deutsche Wettbewerbsbeitrag, steht.

Sowohl Jentsch als auch Mädel spielen toll, die Chemie zwischen beiden als Paar in der Krise stimmt. Schade nur, dass manche Auseinandersetzung des Paares zu vorhersehbarem Schlagabtausch gerät und nicht einfach mal Sprachlosigkeit herrscht. Es scheint ja ein festes Repertoire in deutschen (Fernseh-)filmen zu geben, aus dem sich ein/e DrehbuchautorIn für verbale Paarkonflikte bedient.

Zum Glück gibt es ein paar schlauere Sätze im Drehbuch. Zum Beispiel einen, den die Hebamme zu Astrid sagt, als sie bereits im Krankenbett liegt und auf die Abtreibungsprozedur vorbereitet wird: Niemand könne ihr die Entscheidung abnehmen, weil sie nur der treffen könne, der dazu gezwungen sei. Ein kluges Statement zu dieser existentiellen Frage, die der Film so verhandelt, dass keine eindeutige Lösung angeboten wird.

Cynthia Nixon (links) und Jennifer Ehle in „A Quiet Passion“. © Johan Voets
Cynthia Nixon (links) und Jennifer Ehle in „A Quiet Passion“. © Johan Voets

A quiet passion
Tragisch, dass Emily Dickinson ihren literarischen Ruhm nicht mehr erlebte, denn die meisten ihrer Gedichte wurden erst nach ihrem Tod veröffentlicht und verehrt. Beispielsweise von Pete „Libertines-Babyshambles“ Doherty. Nun wird Dickinson in dem Biopic „A quiet passion“ ein Denkmal gesetzt, das in der Reihe „Berlinale Special Gala“ zu sehen ist. Cynthia Nixon (Sex and the City) spielt die Dichterin.

Der britische Regisseur Terence Davies hat ein beklemmend steifes, äußerst ruhiges Kammerspiel inszeniert, das die Enge, in der Emily mit ihrer Schwester Lavinia (Jennifer Ehle) im 19. Jahrhundert in Amherst (Massachusetts) lebt, eindringlich und gruselig bigott wiedergibt.

Emilys Existenz spielt sich im Grunde nur in ihrem tief religiösen Elternhaus ab. Ihr soziales Leben beschränkt sich auf Gartenspaziergänge und Kirchenbesuche. Der Film zeichnet nach, wie sich Emily immer mehr zurückzieht und am Ende kaum mehr ihr Schlafzimmer verlässt. Kein Wunder, liest ihr doch etwa ihr Bruder Austin in einer Schlüsselszene einen Zeitungsbericht vor, in dem Gedichte von Frauen als „Literature of Misery“ gedisst werden.

Die zwei Stunden verlangen einem als Zuschauerin einiges ab. Manche der Konversationen im Hause Dickinson rutschen leider ins Pathetische ab. Beispiel: Emily tränenüberströmt, im Salon, Rüschenbluse, Seitenscheitel zu ihrer Schwester: „Wie kannst du mich nur lieben?“ Schwester, tränennasser Blick: „Es ist so einfach, dich zu lieben.“

Aber letztlich schafft es dieses Period-Drama doch, sehr viel Mitleid für Dickinsons Schicksal zu empfinden, die ein Leben in Passivität und Unterordnung erdulden. Für ihre Rebellion blieben ihr aber wenigstens ihre Gedichte.

Maggie's Plan
Dreamteam: Greta Gerwig und Ethan Hawke. © Hall Monitor, Inc.

Maggie’s Plan
Greta Gerwig spielt in diesem gelungenen Panorama-Special-Beitrag mal wieder eine neurotische wie sympathische New Yorkerin, die mit Mitte 30 in eine Lebenskrise stürzt. Weil keine ihrer Beziehungen länger als sechs Monate hielt, sie aber ein Baby will, kommt sie auf Idee, sich mit dem Sperma eines kauzigen Bekannten selbst zu schwängern.

Maggies Plan geht natürlich nicht auf wie gedacht. Ähnlich wie bereits in „Mistress America“ von 2015 läuft Gerwig in dieser gut getimten Komödie wieder zu Hochform auf. Das liegt aber auch an ihren Mitspielern: Ethan Hawke, den sie Julianne Moore ausspannt, um die beiden nach einigen Jahren wieder zu verkuppeln. Gerwig ist übrigens auch wegen ihres doch sehr individuellen Modestils (flache Klotzschuhe und karierte knielange Flanellröcke) wieder einmal ein angenehmes Gegenbild zu gängigen Frauenbildern im Film.

Anja Plaschg und Laurence Rupp. © Ruth Beckermann Filmproduktion
Anja Plaschg und Laurence Rupp. © Ruth Beckermann Filmproduktion

Maggie’s Plan
Der Briefwechsel zwischen zwei Schwermütigen der deutschen Literatur, Ingeborg Bachmann und Paul Celan, währte über viele Jahre. Aus diesen Texten hat Regisseurin Ruth Beckermann nun ein Kammerspiel inszeniert, das allein von der Rezitation dieser Briefe lebt, die Anja „Soap and Skin“ Plaschg und Lawrence Rupp übernehmen.

Kann das funktionieren, denkt man in der ersten Szene von „Die Geträumten“, der in der Reihe Forum läuft, wenn man nur das Gesicht von Plaschg in Großaufnahme sieht, so nah, dass wir sogar ihren schiefen Eckzahn entdecken? Es kann erstaunlicherweise.

Über knapp 90 Minuten halten Plaschg und Rupp tatsächlich die Spannung in diesem Film, der sich hauptsächlich hinter zwei Mikrofonen in einem Aufnahmestudio in Wien abspielt. Aufgelockert wird das Ganze auf angenehme Weise, weil Beckermann zwischen die Rezitationspassagen private Plaudereien der beiden Darsteller geschnitten hat. Lust auf die Lektüre der Originalbriefe macht der Brief allemal.

Sandy Stone. © Roland Scheikowski
Sandy Stone. © Roland Scheikowski

Gendernauts – Eine Reise durch die Geschlechter
In Monika Treuts 1999 entstandenem und auf der Berlinale damals mit dem Teddy Award ausgezeichnetem Film, der nun in der Reihe „Teddy 30“ zu sehen ist, werden eine Handvoll Protagonisten, f2m (female to male)-Transpersonen, detailliert porträtiert.

Dabei entfaltet sich ein Spektrum an faszinierenden, selbstbewussten, kurzum schön anzuschauenden Menschen, die sich neben ihrem Alltag in ausgelassenen Spektakeln wie Clubauftritten mit Drag Queens ausleben. Klar, dass sich die Transgender-Szene vorwiegend im toleranten Lebensumfeld von San Francisco entwickeln konnte.

Umwerfend das zum Teil früher entstandene Porträt von Max Wolf Valerio, der die Testosteron-Einnahme als absoluten Kraftzuwachs und als Erkennen des Macho-Gehabes erlebt. Nicht ausgespart wird auch die medizinische Seite: etwa die riskante Testosteron-Einnahme über den grauen Markt bis hin zur Einrichtung einer Klinik in San Francisco mit kontrollierter Verabreichung des Hormons.

Daneben geht es auch um das Thema der chirurgischen Angleichung wie z. B. das Wegoperieren der Brüste. Ob diese Eingriffe für die betroffenen Personen mehr oder weniger zwingend notwendig sind, wird überzeugend dargestellt. Dazwischen immer wieder eingestreut: die eindringlichen Worte von Sandy Stone, die uns gleich einem/r Schamanen/in beschwört, die Vielfalt, die Spielarten in der Ausprägung der Geschlechter wahrzunehmen und als Bereicherung unserer Welt aufzufassen.

Gérard Depardieu © Les films du Worso - LGM Films
Gérard Depardieu © Les films du Worso – LGM Films

The End
Über Gérard Depardieus private Spinnereien herrscht ja seit einiger Zeit Bestürzung: Steuerflucht nach Russland, Alkohol am Steuer, fragwürdige Freunde. Oder ist er sturzbetrunken, wenn er mit Lukaschenko auf einer weißrussischen Wiese die Sense schwingt? Angeblich soll er mehrere Flaschen Wein am Tag leeren.

Wäre er nicht so ein großartiger Schauspieler und würden die Eskapaden nicht wie gezielte Provokationen wirken, hätte man ihm das nicht verziehen. In „The End“, der in der Reihe „Forum“ läuft, liefert er mal wieder eine Höchstleistung ab. Zum Film scheinen Regisseur Guillaume Nicloux Filme wie „The Blair Witch Project“ und der Wald aus Lars von Triers „Antichrist“ inspiriert haben.

Die Geschichte eines Mannes, der sich bei der Suche nach seinem Hund in einem bedrohlichen Wald verirrt, ist ein Experiment des in der Natur auf sich allein zurückgeworfenen Menschen, ein trauriges Märchen über Einsamkeit und Isolation, gleichzeitig eine Depardieu-Ein-Mann-Performance, die allein von seiner massigen Präsenz lebt. Wie er über 90 Minuten schnauft, flucht, raucht, weint, keucht, säuft und jammert ist Suspense à la Hitchcock, wobei sich die einzigen Schockmomente auf die letzten fünf Minuten beschränken.

Wie bereits in Abel Ferraras „Welcome to New York“ stellt der Franzose wieder einmal schonungslos den eigenen wuchtigen Körper mit all seinen Unzulänglichkeiten zur Schau: Es schmerzt beim Zusehen, wie etwa, als er sich, halb verdurstet, mühsam vom Waldboden hochwuchtet, nachdem ihm der niederträchtige Fremde Hilfe versagte.

Die Rolle des femininen Mannes entspreche ihm sehr, sagte Depardieu mal in einem Zeit-Interview. Zweifellos ist das Facettenreichtum seiner Schauspielkunst, die „The End“ einmal mehr unter Beweis stellt, ein Beleg dieser Aussage.