Von Timo Posselt

Es warten 30 Leute am Bahnhof von Bazenheid – einer 3.500-Seelen-Gemeinde zwischen Ostschweizer Provinz und mittelländischem Agglobrei. Sie sind hier, um ein Zeichen zu setzen gegen die restriktive Asyl- und Migrationspolitik der Schweiz. Die Demonstrant*innen spazieren los durch die Ortschaft – vorbei an Supermärkten und Kneipen. Sie skandieren Sprechgesänge und verteilen Flugblätter. Damit wollen sie auf die unmenschlichen Haftbedingungen des Geflüchteten J. aufmerksam machen, der im örtlichen Ausschaffungsgefängnis eingesperrt ist.

© Tine Fetz
Die Hüttenzauber-Idylle trügt: Gemütlich und süß ist das politische Klima der Schweiz so gar nicht. © Tine Fetz

J. kam aus Afghanistan und leidet unter psychischen Problemen – doch die nötige psychologische Hilfe kriegt er nicht. Die Schweizer Behörden wollen ihn gemäß des Dublin-Abkommens in sein Ankunftsland Italien „ausschaffen“, wie es hier heißt. Der 18-jährige J. hat keine Verbrechen begannen, dennoch sitzt er seit fünfzig Tagen im Gefängnis. Vier Stunden am Tag im Gefängnishof, eine Stunde pro Woche Besuchszeit. Den AktivistInnen stellt sich auf halbem Weg zum Gefängnis ein Wirt entgegen: „Was ist das denn für eine Scheiße?“ Sie drücken ihm ein Flugblatt in die Hand, und er beginnt angestrengt zu lesen. Kaum ist er fertig und der Demonstrationszug weitergezogen, zeigt er ihnen den Mittelfinger. Die Geschichte der Abschottung in der Schweiz ist alt.

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gab es Krawalle gegen ausländische Bauarbeiter. Während des Zweiten Weltkriegs war es die Schweiz, die das „J“ im Pass europäischer Jüd*innen durchsetzte, um sie an der Grenze einfacher zurückschicken zu können – und dajahren mit in die Konzentrationslager der Nazis. Ein offizieller Ausspruch der Regierung prägte damals die Diskussion: „Das Boot ist voll.“ Nur wenige trauten sich dagegen einzustehen, ließen Geflüchtete hinein und nahmen welche auf – manche von ihnen wurden nach dem Krieg bis zu ihrem Tod vom Staat dafür schikaniert. Wie man damals die Geflüchteten in den Tod schickte, so wollte man später die Schweiz am liebsten vor jeglicher Migration abschotten. In den 1970er-Jahren machte sich der Industriellensohn James Schwarzenbach mit einer direktdemokratischen Volksinitiative gegen die sogenannte Überfremdung einen Namen – diese wurde jedoch vom Schweizer Stimmvolk abgelehnt.

Anfang 2014 erlebte die Schweiz dann einen historischen Einschnitt in ihrer Abschottungsgeschichte. Die Stimmberechtigten nahmen mit äußerst knappen 50,3 Prozent die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative an. Sie sieht vor, die Einwanderung in die Schweiz auf jährliche Höchstzahlen zu begrenzen. Darin sind Asylsuchende eingeschlossen. Im Verfassungstext ist lapidar von „Ausländerinnen und Ausländern“ die Rede. Ob eine in die Schweiz kommen möchte, weil sie in der Heimat verfolgt wird, spielt dabei keine Rolle. Mehr noch: Maßgebende Kriterien für eine Aufenthaltsbewilligung sollen „ein Gesuch des Arbeitgebers und eine ausreichende, eigenständige Existenzgrundlage“ sein. Insbesondere Geflüchtete können beides meist nicht vorweisen.

Während die Initiative mit der einen Hand einen Deckel auf die Schweiz stülpt, teilt sie mit der anderen Migration in zwei Klassen: Arbeitsmigrant*innen, am liebsten Fachkräfte, die von der Schweizer Wirtschaft bestellt worden sind, und unerwünschte Geflüchtete, die man mit der geänderten Verfassung und der Stimmmehrheit im Rücken grundlos abweisen kann. Dieser Umgang mit Geflüchteten fällt in der „Festung Europa“ weiter nicht aus dem Rahmen, doch bei der neoliberalen EU stößt die Initiative mit ihren Kontingenten übel auf. Sie steht in Gegensatz zur bisherigen Politik des freien Personenverkehrs die selbstverständlich nur für Privilegierte gilt. Francesca Falk ist Historikerin und Kulturwissenschaftlerin an der Universität Fribourg. Sie erklärt, warum dieses Resultat eine historische Zäsur ist: „Einerseits reiht sich dieses Abstimmungsresultat in eine Reihe von Migrationsverschärfungen der letzten Jahre ein. Andererseits wurde im Gegensatz zu den Schwarzenbachgedajahren erstmals gegen die Interessen der Wirtschaft entschieden.“

Das Resultat schädige das Verhältnis der Schweiz zur EU nachhaltig. Zwischenstaatliche Verträge, die für die Schweizer Wirtschaft sehr wichtig sind, stehen seither auf dem Prüfstand. Forscher*innen wurden von EU-Programmen ausgeschlossen und für Studierende ist unklar, ob sie Auslandssemester noch absolvieren werden können. Zwar gibt es für sie einige kurzfristige Übergangslösungen wie Erasmus plus, doch die Zukunft des Austauschprogramms bleibt ungewiss. Schon jetzt wurden bestimmte Möglichkeiten zur Teilnahme an europäischen Bildungsprogrammen abgeschafft.

Eingewanderte Frauenrechte
Doch Falk möchte diese Geschichte der Schweizer Abschottungspolitik durch eine zweite ergänzen. Bereits in den 1830er- und 1840er-Jahren flüchteten Revolutionär*innen und Liberale aus ganz Europa vor den Monarchen ihrer Heimatländer und bekamen hier Asyl. Nach der Niederschlagung des Aufstands der Pariser Commune in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden die französischen Sozialist*innen in der Eidgenossenschaft Schutz. Außerdem nahm die Schweiz einen Geflüchteten auf, der später ein Weltreich umkrempeln sollte – Lenin. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs fand dieser vor der Verfolgung in der Heimat in Genf und Zürich Unterschlupf.

Falk weist auch daraufhin, dass der vorherrschende Blick auf Migration vieles ausblendet: „Oft wird Migration so dargestellt, als würde sie in Bezug auf Frauenrechte einen Rückschritt bringen.“ Doch ein Blick auf die Schweizer Geschichte zeigt oft gerade das Gegenteil: Es waren russische Revolutionärinnen, die Ende des 19. Jahrhunderts in die Schweiz flüchteten und den Schweizer Frauen erst den Zugang zu ihren eigenen Universitäten erkämpften. Für die Italienerinnen, die in den [sam id=“5″ codes=“true“]Nachkriegsjahren im Zuge der Arbeitsmigration hierher kamen, waren die Schweizer Verhältnisse in Lohngleichheit, Familienrecht und Mutterschutz ein Rückschritt. Erst 1971 hatte die Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt und in einem Kanton gar erst 1991.

Applaus vom rechten Rand Europas
Verantwortlich für die neueste Welle der Schweizer Abschottungspolitik ist die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP). Sie schickte neben einer Reihe von weiteren rassistischen Abstimmungsvorlagen in den letzten Jahren auch die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative vors Stimmvolk. Laut Falk beruhen die Erfolge der SVP auf einer Skandalisierung der Normalität. „Migration fand gerade in die Schweiz immer schon statt“, sagt Falk und doppelt nach: „Die SVP stilisiert diesen Normalfall zum Sonderfall und blendet damit die ganze Migrationsgeschichte aus.“ Die SVP benützt die Ausländer*innen, um diffuse Ängste der Mittelschicht zu bedienen. Das Vehikel für ihre rassistische Stimmungsmache und die Durchsetzung der Abschottungsforderungen ist die Volksabstimmung, die anscheinend besonders ältere Leute anspricht.

Während 2014 lediglich 20 Prozent der unter 29-Jährigen zur Abstimmung gingen, waren es bei den über 50-Jährigen 70 Prozent. Nach dem Ja zur „Masseneinwanderungsinitiative“ am 9. Februar 2014 brach im rechtsradikalen Europa Jubel los: Die NPD schickte ein Glückwunschschreiben, die Chefin des französischen Front National twitterte „Bravo!“ und ein rechtsradikaler italienischer Politiker schwenkte im Europaparlament eine Schweizer Flagge. Die SVP war stolz auf ihren Erfolg. Solchen wünscht sich auch die Alternative für Deutschland (AfD) – mit den gleichen Mitteln.  Der ehemalige AfD-Vorsitzende Bernd Lucke schielte auf das Schweizer Abstimmungsergebnis und forderte auch für Deutschland Volksabstimmungen, um die Zuwanderung zu beschränken – „wenn die Altparteien das Problem weiter ignorieren“. Könnte funktionieren: Unmittelbar nach dem Schweizer Abstimmungsergebnis zeigte eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest, die der Sender „Deutsche Welle“ in Auftrag gegeben hatte: 48 Prozent der Deutschen sprechen sich für Zuzugsbegrenzung aus.

In der Mitte angekommen
In der Schweiz schürt und bedient die SVP das rassistische Klima. In zwei direktdemokratischen Volksinitiativen erwirkte sie 2009 ein Bauverbot von Minaretten und ein Jahr später die automatische Abschiebung von „kriminellen Ausländern“. Beide Initiativen verstießen gegen Verfassungsgrundsätze wie Religionsfreiheit und die Verhältnismäßigkeit von Straftaten und Vollzug. Dem Parlament – ein Verfassungsgericht gibt es in der Schweiz nicht – fehlte der Mut, die beiden Volksbegehren vor der Abstimmung für ungültig zu erklären.

Die SVP hat mit ihrer Deutungshoheit im Migrationsbereich nichts Neues erfunden, doch die Grenzen des Sag- und Zeigbaren verschoben. Am 30. November 2014 kam die Ecopop-Initiative der Vereinigung „Umwelt und Bevölkerung“ vor das Stimmvolk. Darin forderten konservative WachstumskritikerInnen eine Beschränkung des „Zuwanderungssaldos“, also der Differenz zwischen Ein- und Auswanderung, auf jährlich 0,2 Prozent. Bei der Entwicklungshilfe sollte zudem ein Zehntel des Gelds für Verhütungsprogramme ausgegeben werden. Mit vermeintlich grünen Argumenten wird mit einer „Das Boot ist voll“-Rhetorik für weniger Zuwanderung geworben. Bis weit in die Linke wollte die Initiative Zustimmung erfahren, letztlich wurde sie jedoch mit 74,1% abgelehnt.

Zuletzt wollte die SVP die sogannte Durchsetzungsinitiative unters Volk bringen. Mit einer knappen Mehrheit entschieden sich die Schweizer*innen am Sonntag allerdings gegen die Zweiklassenjustiz, in der kriminelle Ausländer*innen automatisch ausgeschafft werden sollten – also bereits nach dem Begehen von Bagatelldelikten. 43,1% stimmten für die schnelle Abschiebung in einem Land, in dem ein Viertel der Bevölkerung keinen Schweizer Pass hat. Warum das Ergebnis ein Befreiungsschlag für die Schweiz ist, erklärt Renato Beck in der Tageswoche.

Gegen die mediale Allgegenwärtigkeit der SVP-Polemik setzt Francesca Falk auf Widerstand: „Viele Menschen setzen sich seit Jahren gegen diese Politik ein und können trotz der finanziellen Übermacht der SVP einiges bewirken.“ Die 30 Widerständigen in Bazenheid sind inzwischen vor dem Ausschaffungsgefängnis angekommen. Auf einer angrenzenden Wiese grasen Kühe und eine Handvoll ziviler Polizist*innen verweigern den Demonstrant*innen den Zutritt zum Eingang des Gefängnisses.Ein junger Aktivist hält eine Rede und der anschließende Jubel für J. übertönt die bimmelnden Kuhglocken. Auf dem Rückweg zum Bahnhof verteilen die AktvistInnen weiter Flugblätter an die erstaunten BazenheiderInnen. Es haben zwar wenige an der Demonstration teilgenommen, doch so etwas gab es in diesem kleinen Kaff in der Provinz seit Jahren nicht mehr.

Ein paar Tage später wird bekannt, dass J. gar nicht mehr im Gefängnis in Bazenheid saß. Zur Vorbereitung seiner Ausschaffung nach Italien wurde er in ein anderes überführt. Die Zivilbeamt*innen, die sich ins Fäustchen lachten, sagten den Solidarisierten nichts davon – es braucht viel Idealismus, wenn man sich in der Schweiz gegen die restriktive Asyl- und Einwanderungspolitik einsetzt.

Der Text ist eine aktualisierte Version eines Artikels aus der Missy 04/14.