Von Andrea Karch

Wir leben in einem Nicht-Ort, dadurch, dass wir überall zu Hause sind – auf Zeit. Egopolitik und Einsamkeit bezeichnen wir als Charakterstärke und als Möglichkeit. Während digitale Transaktionen instantan Wohlstand und Armut bestimmen und unsere Kultur in Abstraktion verschwinden lassen, sind auch wir ein quantitatives Produkt. Jederzeit austauschbar. Die Welt hat sich in einer globalen konsumorientierten Wettbewerbshysterie verflüssigt.

Tinder ist ein Beispiel dafür wie Finanzkapitalismus 2016 funktioniert. Das Problem ist nicht Tinders digitales Wesen, sondern dass es unsere realen Handlungsweisen schlichtweg kopiert und auf eine virtuelle Plattform projiziert. Sobald allerdings eine Tinder-Diskussion beginnt, verfallen viele in eine trügerische Nostalgie dem analogen Kennenlernen gegenüber.

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Egal ob on- oder offline: Die nächstbeste Maus ist nur einen Katzensprung entfernt. ©willma… / photocase.de

Die Fingerbewegung des Swipens stellt dar, wie wir auch beim ersten Flirt funktionieren. Jedoch heißt es, der Mensch würde damit auf sein Erscheinungsbild reduziert werden. Dabei ist das Ausmaß an Stereotypisierung, dem wir auf der Straße ausgesetzt sind, unübertreffbar. Beispielsweise ist besonders Mann in real genauso frauenfeindlich wie digital. Das hat weniger mit Tinder als „Innovation“ zu tun als mit der realen Genderungleichheit. Während Liebesbeziehungen schon immer ein Konstrukt unserer Gesellschaft waren, ist das Tindern nicht der Ursprung unserer Angst vor Intimität, sondern ein dysfunktionaler Lösungsversuch.

Zwei Dinge verändern durch die App die Realität allerdings maßgeblich. Erstens die Quantität. Die nächst bessere Option wartet immer nur einen Swipe weiter. Mit ihr geht der Wettkampf einher. Wen es weniger kümmert, gewinnt. Allerdings ist das ebenso real auch als Nicht-User. Das morbide daran ist nicht der digitale Raum des Kennenlernens, sondern dass wir uns in einer Welt der Wertlosigkeit danach sehnen, etwas Besonderes zu sein. Mimik, Gestik und Sprache spielen wir dabei so effizient und eigen wie möglich ab. Im Bewerbungsgespräch, im Chat und im Bett.

Zweitens der Faktor Zeit. In Bequemlichkeit aufgewachsen, sind wir es gewohnt, jedes Bedürfnis sofort zu stillen. Amazon und Arnd, 3 Kilometer entfernt. Heute muss man das Haus nicht mehr verlassen um mit der Beute nach Hause zu gehen. Aber ob das einen moralischen Unterschied unserer Absichten macht, bleibt fraglich. Denn Sex ist schon seit langem ein Konsumgut. Sex and the City läuft seit ‘98, Tinder ist 2012 erschienen. Auch konventionelle Romantik ist nicht nur auf Tinder tot. Erotische Filme gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert und Pornografie begleitet uns heute auch im Supermarkt alltäglich.

Dass es an sprachlicher Kompetenz, fundierten Inhalten oder Einfühlungsvermögen mangelt, liegt also daran, dass sowohl unser Lebensraum als auch Informationen hyperkommerzialisiert wurden. Die zwei größten Umbrüche im heterosexuellen Verhalten in den letzten vier Millionen Jahren waren dementsprechend das Establishment der Heirat vor 10.000-15.000 Jahren und der Aufschwung des Internets in den 90ern.

Das ist keine „Dating Apokalypse“ sondern die Reaktion auf Kompetenzen, die in unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft verloren gegangen sind. Daran ist nicht Tinders virtuelles Wesen, sondern die westliche Finanzdiktatur Schuld. Hookup Culture sollte als Spiegel der Wirtschaft und der Digitalisierung der Welt betrachtet werden. Wir wählen nicht mehr nur austauschbare Marken und Informationen, sondern austauschbare Kolleg*innen, Freund*innen und Partner*innen aus.

Während das Leben inmitten des World Wide Web, Google und Augmented Reality, Tinder zum Anfassen real erscheinen lässt, hat sich unsere Beziehung zu Maschinen und Produkten zweifellos verändert. Und mit ihr auch die zu Menschen. Der Kern der Auseinandersetzung sollte jedoch nicht die Frage sein, ob ein sich treffender Blick oder ein digitales Match dazu führt, dass das Spiel der Selbstinszenierung beginnt, sondern wie wir lernen, in diesem komplizierten Geflecht zu schwimmen ohne uns selbst und Andere dabei zu verlieren.