Von Emine Aslan

Was ist uns peinlich? Was ist uns so peinlich, dass unser Körper sich dazu verhält, ohne dass wir es verhindern können? Etwa indem wir erröten. In welchen Kontexten fühlt sich unser Körper zugehörig, und wovon ist das abhängig? Wenn in unsere Körper nun durch Sozialisation das „Wissen“ darüber eingeschrieben wird, was gesellschaftlich als peinlich erachtet wird, wie ist dann das Verhältnis zwischen dem, was von außen nach innen und innen nach außen stattfindet?

Einatmen, ausatmen. © Tine Fetz
Einatmen, ausatmen. © Tine Fetz

„Yes, and the body has memory.“
– Claudia Rankine

(Übersetzung der Redaktion: „Ja, und der Körper hat ein Gedächtnis.“)

Wenn unterschiedliche Körper Unterschiedliches erLeben, in ähnlichen Situationen unterschiedlich behandelt werden – weil Frau, weil Schwarz, weil muslimisch, weil queer, weil behindert –, dann denken, fühlen und reagieren diese Körper auch unterschiedlich. Andere Erinnerungen. Anderes Wissen. Weil eine Frage immer wieder meinem Körper gestellt wird. Weil eine Handlung schon 100 Mal genau auf diese eine Art und Weise, in genau diesem einen Kontext an meinen Körper gerichtet wurde.

Ich sitze bei der Lesung eines guten Freundes. Es ist einer der wenigen Momente, in denen ich solch eine Diskussion ausschließlich beobachte. Kommentarlos. Ich schweige, und doch gebe ich meine Seufzer von mir. Nach innen. Seufzer füllen meine Lungen. Die Grenzen von „innen“ und „außen“ machen immer weniger Sinn in diesen Momenten.

„To live through the days sometimes you moan like deer. Sometimes you sigh. The world says stop that. Another sigh. Another stop that. Moaning elicits laughter, sighing upsets. Perhaps each sign is drawn into existence to pull in, pull under, who knows; truth to be told, you could no more control those sighs than that which brings the sigh about. The sigh is the pathway to breath; it allows breathing. That’s just self-preservation (…) You wouldn’t call it an illness; still it is not the iteration of a free being.“
– Claudia Rankine

(Übersetzung der Redaktion: „Um die Tage durchzuleben, stöhnst du manchmal wie ein Reh. Manchmal seufzt du. Die Welt sagt: Hör auf damit. Ein weiteres Seufzen. Ein weiteres ,Hör auf‘. Stöhnen ruft ein Lachen hervor, Seufzen regt auf. Vielleicht ist jedes Zeichen dafür vorgesehen, eingezogen zu werden, nach unten gezogen zu werden, wer weiß; um ehrlich zu sein, kannst du das Seufzen nicht so sehr kontrollieren, wie sein Auslöser es kann. Das Seufzen ist ein Weg zum Atmen, es lässt Atmen zu. Das ist Selbsterhaltung. (…) Du würdest es nicht als Krankheit bezeichnen, dennoch gilt es nicht als Durchlauf eines freien Menschen.“)

Zu Beginn der Lesung wird adressiert, wie wichtig die Besetzung dieses Podiums ist. Dass sich das Gesicht der deutschen Gegenwartsliteratur langsam verändert und andere Geschichten zu Wort kommen. Und trotzdem scheint das Publikum sich keine Gedanken darüber zu machen, dass sich mit den Schreibenden auch das Lesen verändern muss.

Obwohl soeben anspruchsvolle und wichtige Literatur gelesen wurde, drehen sich die Fragen des Publikums ausschließlich um die Bemerkung einer Autorin, die ebenfalls gelesen hat. „Warum ist denn die Frage, woher man kommt, potenziell rassistisch?“

„Sometimes you sigh. The world says stop that. Another sigh. Another stop that.“

(Übersetzung der Redaktion: „Manchmal seufzt du. Die Welt sagt: Hör auf damit. Ein weiteres Seufzen. Ein weiteres ,Hör auf‘.“)

Den Lesenden, die gewohnt sind, ihr Wissen an sich selbst auszurichten, die viel zu oft nicht-weißen Körpern die Herkunftsfrage stellten, kennen diese Frage nur in anderen Konstellationen. Mit anderen Konnotationen. In anderen Kontexten. Mit einem befriedigten Nicken, wenn die Antwort „Marburg“ lautet.

Zu Beginn der Lesung wird reflektiert, dass hier nicht der literarische Mainstream liest. Der „anderen“ Perspektiven, „anderen“ Geschichten scheinen sich alle bewusst. „Erkennen zu wollen, was außerhalb der Erlebniswelt liegt“, beschreibt das Dilemma dieses Publikums. Nicht-weißes ErLeben, nicht-weißes Wissen soll entlang weißer Erkenntnis definiert werden.

„The sigh is the pathway to breath; it allows breathing. That’s just self-preservation (…) You wouldn’t call it an illness; still it is not the iteration of a free being.“

(Übersetzung der Redaktion: „Das Seufzen ist ein Weg zum Atmen, es lässt Atmen zu. Das ist Selbsterhaltung. (…) Du würdest es nicht als Krankheit bezeichnen, dennoch gilt es nicht als Durchlauf eines freien Menschen.“)

Das denkende, begreifende Herz. Der fühlende Geist. Und dort ist keine Trennung, wo die Gewalt am Körper von der Gewalt am Geist unterschieden wird. Das Einatmen ist mein Seufzer nach innen.

„Though a share of all remembering, a measure of all memory, is breath and to breathe you have to create a truce – a truce with the patience of a stethosope.“
– Claudia Rankine

(Übersetzung der Redaktion: „Obwohl ein Teil des Erinnerns, eine Messeinheit aller Erinnerungen, das Atmen ist und du zum Atmen eine Wahrheit kreieren musst – eine Wahrheit mit der Geduld eines Stethoskops.“) 

Die Lungen füllen sich mit dem Eingeatmeten und werden mit jedem Seufzer eine weitere Erinnerung dieses Körpers, dessen sich hebender und senkender Brustkorb vor Wissen strotzt. Und jeder Seufzer gibt Leben, und jedes Einatmen hinterlässt eine Signatur. Und so wird die unhinterfragte Hinterfragbarkeit meiner Person zu einem unendlichen Akt der Entkleidung. „Between flesh and bones there is still space for a terrorist to hide.“

(Übersetzung der Redaktion: „Zwischen Fleisch und Knochen gibt es immer noch genug Platz, um sich als Terrorist*in zu verstecken.“)

„A famous aphorism tells us, ,The Sufi is the child of the moment‘ (as-sufi ibn al-waqt). One of it’s meanings is that the true Sufi lives in the constant awareness that his self is nothing but what he is at the present moment. And since each present moment is unique, each moment of the self is unique. In some Sufi texts, each moment of  the self is called a nafas, a ,breath.‘ The Sufis are then called ,the folk of the breaths‘ (ahl al-anfas), because they live in full awareness of the uniqueness of the nafs at each nafas, each breath, each instant.“
–  William C. Chittik

(Übersetzung der Redaktion: „Ein berühmter Lehrspruch besagt: ,Di*er Sufi ist das Kind des Moments‘ (as-sufi ibn al-waqt). Eines seiner Bedeutungen ist, dass ein*e wahre*r Sufi in dem konstanten Bewusstsein lebt, dass jeder Augenblick des Selbst einzigartig ist. Und weil jeder gegenwärtige Moment einzigartig ist, ist jeder Moment des Selbst einzigartig. In einigen Sufi-Texten wird jeder Moment des Selbst als nafas bezeichnet, als ,Atemzug‘. Die Sufis werden deshalb auch ,das Volk der Atemzüge‘ genannt (ahl al-nafas), weil sie in vollem Bewusstsein der Einzigartigkeit eines jeden Nafas, jedes Atemzugs, jedes Augenblicks leben.“)