Von Patricia Bonaudo

Während andere Kinder in meiner Schule kein einziges Wort Hochdeutsch sprechen konnten, war mein Spracherwerb immer Gegenstand großer Besorgnis. Davon hängt so vieles ab: die Entwicklung der Intelligenz, die Integration und die geistige Gesundheit. Bei meinen Voraussetzungen schien das reibungslose Erlernen der Sprache inmitten des Sprachchaos eine riskante Angelegenheit. Meine Mutter ist Kroatin, mein Vater Franzose.

© Shutterstock/Space Monkey Pics
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Und weil das nicht schon verwirrend genug ist, wird es noch unüberschaubarer: Mein französischer Opa ist das Kind italienischer Einwanderer, meine kroatische Oma sprach ursprünglich einen österreichischen Dialekt. Ich selbst bin in Süddeutschland aufgewachsen und dort wird ein Dialekt gesprochen, der ohne Schwierigkeiten als eigene Sprache durchgehen könnte. Nun habe ich selbst Kinder und die Frage des Sprachenlernens stellt sich erneut.

Heute würde wahrscheinlich niemand mehr davon abraten, mit dem Kind in einer anderen als der Umgebungssprache zu sprechen, niemand würde Zweisprachigkeit als problematisch einstufen und dennoch existieren bis heute Vorbehalte und Vorurteile über den gleichzeitigen Erwerb von mehr als einer Sprache. Zum Tag der europäischen Sprachen möchte ich aufräumen mit Ängsten und Mythen über Multilingualität.

1. Mehrsprachige Kinder sind verwirrt

Wenn Kinder in mehrsprachigen Familien aufwachsen, gilt die größte Sorge der Verursachung von Verwirrung und Überforderung. Zwischen den Sprachen hin und her zu wechseln, die Sprachen nicht voneinander unterscheiden zu können und schließlich keine der Sprachen richtig zu beherrschen, das sind die häufigsten Vorbehalte gegenüber dem mehrsprachigen Spracherwerb. Dabei gibt es keine Anhaltspunkte, die diese Sorge unterstützen würden.

Häufig wird das Mischen der verschiedenen Sprachen in einem Satz, das sog. „Code Switching“, missverständlicherweise als Problem und Indiz einer Sprachverwirrung eingestuft. Dieses Mischen der unterschiedlichen Sprachen wird als Code-Switching bezeichnet und ist tatsächlich ein weitverbreitetes Phänomen in mehrsprachigen Gruppen und Gesellschaften und gehört zum normalen multilingualen Sprachgebrauch dazu.

Dass ein Kind alle Sprachen gleichzeitig einsetzt, ist durchaus funktional und kein Zeichen dafür, dass es die Sprachen nicht auseinanderhalten kann. Kinder erleben das Code-Switching bei den Erwachsenen und tun es ihnen gleich. Außerdem nutzen sie, ebenso wie einsprachige Kinder, alle ihnen zur Verfügung stehenden Worte. Wenn ein bestimmtes Wort also nur in einer der Sprachen bekannt ist, wird es an die andere Sprache „ausgeliehen“, dies geschieht aber bewusst und ist demnach nicht der Verwirrung geschuldet, sondern dem noch limitierten Wortschatz.

2. Eine Person – eine Sprache

Dieser griffige Grundsatz gilt unangefochten. Er scheint die Patentlösung gegen die befürchtete Verwirrung zu sein. Bis heute arbeiten fast alle bilingualen Bildungseinrichtungen nach diesem Grundsatz. Die Regel ist so einfach, dass sie bis heute Bestand hat, obwohl sie über 100 Jahre alt ist und zahlreich widerlegt wurde.

Der Ansatz, dass ein Elternteil jeweils nur eine Sprache spricht, kann eine Möglichkeit zum erfolgreichen Spracherwerb darstellen, er ist aber weder notwendige Bedingung noch ausreichende Methode zum Gelingen der Multilingualität. Kinder erlernen die Sprache über den häufigen Kontakt zu unterschiedlichen Sprechenden, zu den Geräuschen und Lauten, zur Grammatik und den Wörtern einer Sprache.

Dabei zählen Qualität und Quantität. So ist es beispielsweise nicht möglich, die Sprache durch das Schauen fremdsprachiger Filme zu erlernen, denn die soziale Interaktion spielt eine entscheidende Rolle. Viele unterschiedliche Menschen, die viele unterschiedliche Worte gebrauchen, wirken sich positiv auf das Erlernen der Sprachen aus. Im Prinzip gelten hier also die gleichen Faktoren wie für den Spracherwerb von nur einer Sprache.

Es ist somit völlig egal, ob eine Person eine Sprache spricht oder außer Haus eine Sprache, zu Hause die andere Sprache gesprochen wird oder an einem Tag eine Sprache, an einem anderen die andere, das Kind erlernt ohnehin nur die Sprachen, die in ausreichender Quantität und Qualität in seinem Umfeld vorhanden sind.

3. Sprachen immer „sauber“ trennen

Häufig sind die Eltern mehrsprachiger Kinder selbst zwei- oder mehrsprachig. Das Mischen der unterschiedlichen Sprachen gehört also zum normalen Sprachgebrauch der Eltern. Mein Kind hört mich Deutsch, Französisch, Englisch und Kroatisch sprechen, denn je nach dem, mit wem ich mich unterhalte, setze ich eine andere Sprache ein.

Mit meinem Kind spreche ich Französisch, Deutsch und in Kroatien auch mal Kroatisch. Dieser unterschiedliche Einsatz der verschiedenen Sprachen ist an unsere Lebensrealität angepasst, genauso wie das Hin-und-her-Wechseln und Mischen der verschiedenen Sprachen. Es gibt keine Anzeichen oder Hinweise darauf, dass sich ein Umfeld mit ganz unterschiedlichen Sprachen negativ auf die Sprachentwicklung oder die Herausbildung des Wortschatzes auswirkt. Wie oben erläutert kann das Einsetzen des Code-Switching sogar als funktional betrachtet werden.

4. Umso früher umso besser

Ein weiteres Vorurteil betrifft das Alter des Spracherwerbs. Die Annahme, dass das Erlernen einer neuen Sprache nach Überschreiten eines bestimmten Alters unmöglich oder nur unter sehr großer Anstrengung möglich ist, ist so weit verbreitet, dass sie fast unhinterfragt gilt.

Klar ist, dass wir nie wieder eine bessere Lernumgebung für den Spracherwerb haben werden als in der frühen Kindheit. Große Teile unserer Umgebung sind in dieser Zeit auf den Erwerb und Ausbau unseres Kommunikationsmittels ausgerichtet, wir haben niemals wieder so viel Raum und Zeit dafür. Dennoch ist der Spracherwerb nicht zwingend an die Kindheit geknüpft. Wenn sich eine weitere Sprache erst zu einem späteren Zeitpunkt herausbildet oder auch erst zu einem späteren Zeitpunkt erlernt wird, schließt das nicht aus, dass diese nicht ebenso gut herausgebildet werden kann wie bei einem Erlernen in frühen Jahren. Es ist nie zu spät, eine neue Sprache zu lernen, wenn wir Lust darauf haben.

5. Mehrsprachige Kinder leiden unter Entwicklungsverzögerungen oder -störungen

Die Häufigkeit von Entwicklungsverzögerungen oder -störungen bei Kindern mit mehreren Sprachen ist nicht höher, meist ist nur die Diagnose schwieriger. Wenn eine Sprachstörung bei einem zwei- oder mehrsprachigen Kind diagnostiziert werden soll, muss viel mehr in Betracht gezogen werden als bei der Entwicklung einer Sprache. Die Anzahl der Vokabeln ist beispielsweise kein zuverlässiger Indikator mehr, wenn das Kind zwei Sprachen spricht. Die Summe der Vokabeln plus die Diversität dieser auf die beiden Sprachen verteilt ergeben erst ein vollständiges Bild. Wenn die zweite Sprache eine eher seltene Sprache ist, wird es zunehmend schwieriger, die Situation richtig einzuschätzen. Für Lehrende und Fachpersonal wird es also immer komplexer, die individuelle Entwicklung richtig zu beurteilen.

6. Zum Schluss das Gegenteil: Mehrsprachige Kinder sind intelligenter

Das Beherrschen von mindestens einer weiteren Sprache scheint heute unerlässlich zu sein, für den beruflichen Erfolg, das Reisen, die interkulturelle Kompetenz, das Bestehen in der modernen Gesellschaft. Es gibt Hinweise darauf, dass mehrsprachige Kinder gewisse Vorteile bezüglich sozialer Kompetenz aufweisen. Dies scheint wenig überraschend, wenn man die häufig komplexen sozialen Systeme eines multilingualen und damit häufig ja auch multikulturellen Umfelds betrachtet. Die Sensibilität für Sprachnuancen und Unterschiede in der Mimik sind wichtiger Bestandteil des Umgangs mit vielen Sprachen, aber generell zeigen bi- oder multilinguale Kinder ähnliche kognitive Vorteile wie Kinder, die eine musische Frühförderung erfahren haben. Wahrscheinlich zeigt sich hier, wie vorteilhaft es für Kinder sein kann, auf ganz unterschiedliche Art und Weise angesprochen und gefördert zu werden. Ganz allgemein.