Von Paula Bolyos

Lenù und Lila wachsen in den 1950er-Jahren in einem ärmlichen Viertel Neapels auf. Während Lenù still und angepasst ist, eckt Lila schon im Volksschulalter bei allen an. Sie befreunden sich, auch wenn Lenù ihre hochintelligente Klassenkollegin immer wieder als Bedrohung wahrnimmt. Dennoch: Die Faszination, die von Lila ausgeht, ist stärker. Die beiden Mädchen verbringen jede freie Minute miteinander – bis sie nach der Volksschule voneinander getrennt werden.

 © shutterstock/Lindsay Basson
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Trotz aller Bemühungen der Lehrerin und entgegen Lilas Protesten wird diese gezwungen, in der Schusterwerkstatt des Vaters zu arbeiten. Währenddessen kann die Lehrerin die Eltern von Lenù überreden, die Tochter die Mittelschule und dann sogar das Gymnasium besuchen zu lassen. Lenù erlebt die Verwirrungen der Pubertät, die Unsicherheiten und Verliebtheiten, Lila bleibt in ihren Äußerlichkeiten kindlich – doch ihre Wut und Trauer über die Chancen, die ihr genommen wurden, werden durch ihre zynischen Bemerkungen und ihren plötzlichen Rückzug immer wieder deutlich.

Das Neapel, in dem die beiden Freundinnen leben, ist eines voller Gewalt, Rassismus und Sexismus. Nicht zufällig hat Elena Ferrante einer der Hauptfiguren, vor der sich der gesamte Rione fürchtet, den Namen Achille gegeben – so hieß auch der Bürgermeister der Stadt jener Zeit, der für seine Politik der Korruption und Spekulation berüchtigt war. Lila entwickelt sich sehr früh zu einer jungen Frau, die – vielleicht gerade wegen der vielen Abweisungen, die sie erteilt – zum umschwärmten und gehassten Mittelpunkt des Viertels wird. Selbst Lenù sieht Lila mittlerweile als Konkurrenz und verkennt oftmals die Zuneigung, die Lila ihr entgegenbringt. Noch viel weniger aber erkennt sie die Privilegien der Bildung, die sie im Gegensatz zu ihrer Freundin genießt – stattdessen sieht sie nur die vermeintlichen Vorteile, die Lila durch ihre Schönheit und Unnahbarkeit bei den jungen Männern erlangt.

Bei den machohaften Kämpfen um Lila steht bald ein gewalttätiger junger Mann an der Spitze, der es als Mitglied einer Camorra-Familie versteht, Lilas Eltern und den Bruder auf seine Seite zu ziehen. Um sich zu retten, stimmt Lila der Verlobung mit dem Sohn des inzwischen ermordeten Don Achille zu. Doch Stefano ist nur scheinbar der unabhängige und stolze junge Mann, erhaben über die mafiösen Strukturen, als der er sich ausgibt …

Elena Ferrante ist es hervorragend gelungen, den Leser*innen neapolitanische Politik und Alltag nahezubringen – am Beispiel zweier miteinander eng verbundenen Frauen, die sich gegenseitig Genialität zuschreiben, und ihren Fluchtversuchen aus einer einengenden und misogynen Umgebung.

Elena Ferrante „Meine geniale Freundin“
Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Suhrkamp, 423 Seiten, 22,70 Euro, bereits erschienen

Erfreulich ist, dass diese groß angelegte „neapolitanische Saga“, die erstmals 2011 von der unter einem Pseudonym schreibenden Elena Ferrante veröffentlicht wurde, aus vier Bänden besteht – Band eins wurde Ende August auf Deutsch publiziert, die übersetzte Fassung des zweiten Bandes soll im Jänner 2017 bei Suhrkamp erscheinen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Autorin ihr – wenn auch aufgrund der sexistisch anmutenden „Enthüllung“ ihrer wahren Identität sehr verständliches – Versprechen, nicht mehr zu schreiben, nicht wahrmacht.