Von Nadja Brenneisen und Lovis Cassaris

Der Hashtag #SchweizerAufschrei verbreitete sich vor Kurzem wie ein Lauffeuer auf Twitter und kurz darauf auch in der Presse. Vor allem Frauen, aber auch einige Männer berichteten unter dem Hashtag von alltäglichen Erfahrungen mit Sexismus und Erlebnissen von Übergriffen. Die #Aufschrei-Aktion, die im Jahr 2013 deutschlandweit Aufsehen erregte, diente uns Initiator*innen dabei als Vorbild.

© Flickr/VSStÖ/CC BY 2.0
© Flickr/VSStÖ/CC BY 2.0

Die geschilderten Situationen sind nicht nur in ihrer Summe erschreckend: Eine Frau berichtete beispielsweise, wie ihr als Teenager der Vater ihrer Freundin zwischen die Beine griff. Andere Frauen erzählten von anzüglichen Bemerkungen, nächtlichen Verfolgungen und Situationen, in denen sie aufgrund ihres Geschlechts nicht ernst genommen wurden. Der Aufschrei gilt aber nicht nur sexueller Gewalt, sondern – wie sich im Netz schnell zeigte – zahlreichen Gesichtern des Sexismus.

Auch Schweizer Politikerinnen schlossen sich der Aktion an. So berichtete zum Beispiel Nationalrätin der Sozialdemokratischen Partei (SP), Min Li Marti, dass Ratskollegen ihr empfahlen, sich ein kompliziertes Thema am besten von ihrem Mann erklären zu lassen. Die Nationalratskollegin und SP-Politikerin Mattea Meyer sei schon gefragt worden, wann es denn Nacktbilder von ihr geben würde.

Die zahlreichen einzelnen Erfahrungen, die durch den #SchweizerAufschrei sichtbar gemacht wurden, beweisen, dass Alltagssexismus weitverbreitet und tiefgreifend ist. Sexistische Strukturen werden in der Schweiz weitgehend als normal betrachtet und von Journalist*innen und Politiker*innen immer wieder reproduziert. Die Gesellschaft hat eine Vorstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit konstruiert, die es Jungen und Männern verwehrt, sich ihrer Männlichkeit sicher zu fühlen, weil diese so fragil und ständig bedroht ist. Für Frauen ist es dadurch schwer, sich dem Zwang der Männer, Männlichkeit ständig beweisen zu müssen, zu widersetzen.

Der Auslöser für den Aufschrei war unter anderem eine Aussage von Andrea Geissbühler, Politikerin der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und Polizistin. In einem TV-Beitrag, in dem es um bedingte Strafen für Vergewaltiger ging, sagte Geissbühler: „Naive Frauen, die fremde Männer nach dem Ausgang mit nach Hause nehmen und dann ein bisschen mitmachen, aber plötzlich dennoch nicht wollen, tragen ja auch ein wenig eine Mitschuld. Da sind die bedingten Strafen vielleicht gerechtfertigt.“

Eine solche Aussage von einer Politikerin, aber vor allem auch von einer Polizistin, die als Freundin und Helferin auch Überlebende von sexualisierter Gewalt nach der Tat einvernimmt, ist schrecklicherweise repräsentativ für bestehende sexistische Strukturen. In der Schweiz wird jede fünfte Frau in ihrem Leben Opfer von sexualisierter Gewalt. Die Dunkelziffer der Vergewaltigungen wird vom Bundesrat und der Frauenberatungsstelle zwischen 80 und 90 Prozent vermutet. In einem Interview mit dem „Tages-Anzeiger“ präzisierte Geissbühler ihre Aussage: Sie habe nicht vom „typischen Fall“, in dem eine Frau vom Täter ins Auto gezerrt und vergewaltigt wird, gesprochen.

Dass es diesen „typischen Fall“ nicht gibt, blendet Geissbühler aus. Sie nutzt stattdessen den Vergewaltigungsmythos des bösen Mannes, der einer Frau auflauert und sie missbraucht. Die Verwendung solcher Mythen ist ein Instrument der Vergewaltigungskultur: Sie dient dazu, sexualisierte Gewalt zu verharmlosen, zu leugnen oder gar zu rechtfertigen.

In der Schweiz ist offen gelebter Sexismus nicht neu: Im Jahr 2003 versuchten 38 von 44 SVP-Nationalräten zu verhindern, dass die Vergewaltigung in der Ehe als Offizialdelikt – also eine Straftat, die von Amts wegen verfolgt wird – zu gelten kommt. Ebenso wehrten sich vier Jahre später sechs SVP-Politiker (gegen eine Mehrheit von 15 Mitgliedern der Rechtskommission des Nationalrats) dagegen, den juristischen Begriff der Vergewaltigung auf Handlungen auszuweiten, die sich nicht auf den vaginalen Penetrationssex beschränken. Letztes Jahr machte sich der SVP-Bundesratskandidat Thomas Aeschi in einem Wahlkampfvideo über Personen lustig, die ohne Einvernehmen mit K.o.-Tropfen betäubt wurden, nachdem kurz zuvor eine Politikerin der Grünen einen SVP-Politiker des Missbrauchs (durch K.o.-Tropfen) beschuldigt hatte.

Andrea Geissbühler brachte das Fass nicht alleine zum Überlaufen: Auch ihr Parteikollege, SVP-Nationalrat und Verleger Roger Köppel, trug in einem Editorial der „Weltwoche“ dazu bei, in dem er sich über die US-amerikanischen Präsidentschaftskandidat*innen äußerte. Donald Trump heuchle seiner Meinung nach ehrlicher als Hillary Clinton: „Er redete einfach so, wie viele Männer reden, wenn sie sich in Herrenrunden oder Umkleidekabinen unbeobachtet fühlen.“ Daneben sprach er Clinton das Recht ab, sich zu Sexismus zu äußern, da sie sich von ihrem betrügenden Ehemann Bill Clinton nicht scheiden lassen hatte.

Die Vergewaltigungskultur in der Schweiz: eine Gesellschaft, in der Vergewaltigungen geschehen, diese aber von Angehörigen, Medien oder Politiker*innen heruntergespielt werden. Den Betroffenen wird misstraut oder eine Mitschuld gegeben.

Es ist deshalb keine Lappalie, wenn Politikerinnen Überlebenden von sexualisierter Gewalt eine Mitschuld zusprechen oder Politiker ihre Erzählungen über Übergriffe als Garderobengerede abtun: Sie tragen Verantwortung, die Öffentlichkeit in ihrem Umgang mit Sexismus und Vergewaltigungsverharmlosung zu sensibilisieren. Es ist nicht egal, was Redakteur*innen schreiben, denn ihre Aufgabe ist, der Bevölkerung die Meinungsbildung zu ermöglichen, anstatt alte Rollenbilder aufs Neue zu etablieren. Alltäglicher Sexismus ist Gewalt. Und das Erdulden von Gewalt darf nicht länger als gegeben und unveränderbar hingenommen werden.

Der #SchweizerAufschrei schlug hohe Wellen und fand in den Medien eine ungeahnte und erfreuliche Resonanz. Diverse Zeitungen berichteten von der Aktion, hinterfragten journalistische Berichterstattung, die Frauenthemen klischiert abhandeln, oder publizierten Tipps, wie Männer auf Frauen zugehen können, ohne sie zu bedrängen. Die Aktion ist kein einfacher Glückstreffer, sondern das Resultat einer Vernetzung von Frauen, die schon seit längerer Zeit im Gange ist. Der #SchweizerAufschrei kritisiert übergreifende strukturelle Probleme. So sollen sich auch Frauen of Color, Lesben, Trans* und bisexuelle Frauen angesprochen fühlen, ihre Stimme zu erheben und ihre Erfahrungen mit Sexismus zu teilen.

Der Aufschrei hat bereits einen Ableger gefunden. Die Lesbenorganisation Schweiz LOS hat durch eine Medienmitteilung vom 25. Oktober 2016 die Diskussion innerhalb der LGBTQ+ Community ins Rollen gebracht. Die von den Medien als Lesbischer Aufschrei aufgegriffene Kritik stößt nun auch in Deutschland auf breite Zustimmung. Durch die starke Vernetzung im Netz war und ist es möglich, gemeinsam Einfluss auf Politik und Medien nehmen zu können und in der breiten Öffentlichkeit Sensibilisierungsarbeit gegen sexualisierte Gewalt und Sexismus zu leisten. Der #SchweizerAufschrei zeigt, wie Michelle Obama es treffend gesagt hat: Genug ist genug.