Von Nadire Biskin

Ich bin auf Facebook, schaue mir die Profile anderer an. Ich google „Übergewicht, Akne, Gossenmädchen“ und lande auf einem Artikel über Ritalin. Das ist eines der bekanntesten Neuro-Enhancementmedikamente, was Kindern und Jugendlichen mit AD(H)S-Diagnose verschrieben wird. Es zielt darauf ab, dass diese Kinder zur Ruhe kommen – ob sie das wollen oder ob es eher der Wunsch ihres Umfeldes ist, ist dabei irrelevant.

© javitrapero.com
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Ritalins Ruf zieht längst auch andere Gruppen in seinen Bann, beispielsweise Studierende. Der Verfasser des Artikels schildert seine persönlichen Beweggründe für die Einnahme der charismatischen Pille. Er spricht von Konzentrationsproblemen. Kenne ich. Ich studiere, genau wie er, auch Philosophie und könnte die Bibliothek als meinen zweiten Wohnort angeben. Die Müdigkeit macht auch vor mir keinen halt, wenn ich nach einem langen Arbeitstag an meiner Hausarbeit schreiben muss. Und das in Berlin, wo alle zugezogenen Akademiker*innenkinder sich wie Kolonialherren benehmen, die es nicht nötig haben zu arbeiten und stattdessen lieber feiern gehen und Drogen nehmen. Ich beneide sie um ihre Selbstsicherheit, ihre Studiumsponsoren und ihre Fußnotenkorrektoren. Ich gebe meine erste Hausarbeit ab. Es folgen drei Tage voller Tränen. Note: 3,7. Kommentar des Dozenten: Putzige Hausarbeit.

Ich verstehe die Welt nicht mehr. Descartes‘ Ansicht nach ist der Verstand die bestverteilte Sache der Welt, denn jeder geht davon aus, dass er genug davon hat.
Ich beginne, an meinen Fähigkeiten zu zweifeln, ich muss an Ritalin rankommen.

Die Odyssee beginnt im Netz. Hier erfahre ich, dass der Wirkstoff Methylphenidat heißt. Das notiere ich mir. Freund*innen, die Drogen konsumieren, benutzen schließlich auch die Fachtermini, das lässt ihren Konsum angemessener wirken.
Ich schreibe meiner Cousine, die als Apothekerin arbeitet, aber sie lässt mich abblitzen. Ich schreibe einem Bekannten, der in den USA lebt. Er antwortet mir mit einem Fragezeichen. Einen Psychiater, der mir ein Rezept schreiben würde, kenne ich leider nicht. Ritalin zu bekommen ohne das dazugehörige Netzwerk scheint unmöglich zu sein. Mal wieder macht sich das Gefühl bei mir breit, zu den weniger Privilegierten dieser Welt zu gehören.

Neues Land, neues Glück. Ich gehe für ein Semester nach Spanien. Auch dort lässt mich Ritalin nicht los. Ich lese im Netz. In einem Forum schreibt ein Mitglied, dass es Ritalin per Post liefern kann. Ich werde skeptisch und google die angegebene Mailadresse. Sie lautet info@bka.de.
Am nächsten Tag gehe ich zum Arzt und erzähle ihm, dass ich Ritalin bräuchte, und behaupte, ich hätte meine Medikamente leider in Deutschland vergessen.

„Mila ist 12 Jahre alt und lebt im fernen Japan. Kulleraugen, Pferdeschwanz, der Kopf voll Fantasie. Früher war sie krank und blass, doch das ist vorbei. Heute ist sie ein Volley-Ass. Und ein kleines Wunder, Wunder, Wunder.“

Ich bin im Mila-Superstar-Modus. Ritalin zeigt seine Wirkung auch ohne Einnahme. Es liegt auf meinem Schreibtisch und ich kann mich besser konzentrieren. Ich betrachte es immer noch als Medikament und nehme es nicht leichtfertig ein, denn so wie Kranksein häufig mit Medikamenten einhergeht, assoziiere ich mit Medikamenten das Kranksein. Ich bin aber nicht krank, ich bin auch nicht Generation Y, sondern eine Bildungsaufsteigerin.

Zurück in Berlin erreicht mich ein Brief vom BAföG-Amt. Sie fordern mich auf, einen Nachweis über meine bisherigen Leistungen zu erbringen. Meine Punkte reichen nicht aus. Dabei habe ich studiert, gelesen, gedacht, geschrieben.

Ritalin liegt auf meinem Schreibtisch. Soll ich die Tabletten konsumieren, in der Toilette runterspülen, weiterverkaufen oder in einem gesellschaftskritischen Kunstwerk als weiße Kreide benutzen?

Anstatt zu arbeiten, die Briefe der Nachbar*innen zu übersetzen und meine Mutter zum Arzt zu bringen, hätte ich Kinder bekommen oder mich im Berghain krank feiern sollen. Krankheit und Kinder sind wenigstens gute Gründe für den Leistungsverzug.

Ich schreibe eine Hausarbeit über Neuro-Enhancement. Eines der Konzepte in der Medizinethik ist von Tom L. Beauchamp und James F. Childress. Sie führen zur Beantwortung der ethischen Fragen vier Prinzipien an. Für die Lingua-franca-Affinen: autonomy, nonmaleficence, beneficence, justice. Kann Ritalin etwa meine Selbstbestimmung fördern?

Stellen wir uns eine Person vor, die Pilot*in werden möchte. Jedoch hat sie Konzentrationsschwierigkeiten, was auf einem Langstreckenflug problematisch wäre. In so einem Fall scheint Neuro-Enhancement das selbstbestimmte Leben zu fördern, da dieser Mensch den Berufswunsch nicht wegen der Konzentrationsstörung aufgeben muss. Es spricht nichts dagegen, außer vielleicht einem Naturfetisch, den viele Bildungsbürger*innen haben.

1:0 für Ritalin.

Andererseits schwächen die eventuellen anderen, die keine Enhancementmittel benutzen, das Argument, dass Ritalin die Selbstbestimmung fördert.
Nachtrag am Abend: Wie sieht es mit den Nebenwirkungen von solchen Mitteln auf die Autonomie aus? Es wird vermutet, dass eine Gefühlsarmut auftritt, aber die Nebenwirkungen sind nicht ausreichend erforscht. Risiken schrecken ab, dennoch ist die entscheidende Instanz das Ich mit dem Bedürfnis nach Verbesserung. Genau das ist charakteristisch für Autonomie.

Mittwoch mache ich nichts für meine Hausarbeit, es heißt, Pausen beim Schreiben täten dem Text gut. Donnerstag fange ich mit dem Abschnitt über die Nichtschädigung an.

Saskia Nagel und Achim Stephan schreiben, dass die Nebenwirkungen von Enhancementmitteln weniger in Kauf genommen werden würden als die im Falle einer medizinisch indizierten Krankheitsbehandlung.
Ich widerspreche, denke aber, es sollte der Kontext berücksichtigt werden. Wie wahrscheinlich ist es, dass der Schaden eintritt? Wie groß ist die Bedeutung des Schadens für die*den Betroffenen im Vergleich zu den gewünschten Folgen?

Immer noch 1:0.

Das Ende meiner Arbeit ist in Sicht. Ich bin müde und besorgt bei dem Gedanken, in nächster Zeit weniger Geld zur Verfügung zu haben. Moralische Prinzipien begleichen nicht die Miete.

Ich recherchiere weiter. Laut Ethiker Klaus Steigleder bedeutet „Wohltun“, auf das Wohl einer*s anderen bedacht zu sein. Das funktioniert nur, wenn man mit anderen interagiert. Es ist aber unklar, ob sich Enhancementmittel wie Ritalin auf diesen Bereich der Emotionalität auch auswirken und inwieweit das die Kommunikation erschwert. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein verdeutlichte am Beispiel eines Löwen: Selbst wenn dieser die Sprache der Menschen spricht, kann er nicht mit ihnen kommunizieren, denn es reicht nicht, die gleiche Sprache zu sprechen, man muss auch die gleiche Lebensform haben, um ähnliche Erfahrungen zu machen. Durch Ritalin könnte also das Verständnis zwischen Menschen, die die Tabletten nehmen, und jenen, die es nicht tun, erschwert werden. Das könnte so weit gehen, dass es zu Entfremdung beider Gruppen führt. Muss man sich am Ende sogar fragen, ob sie noch zur selben Spezies gehören?

Prima facie wären wir gut beraten, auf Enhancementmittel zu verzichten. Auch ohne Enhancement, wie Ritalin, ist die Art von Kommunikation, welche das Wohltun ermöglicht, schon manchmal schwierig. Sie ist uns durch unser Menschsein gegeben. Wird sie aber durch ein Medikament noch mehr erschwert, ist es uns nicht mehr möglich, so zu interagieren, dass wir diese Art von Austausch haben, der uns einander näher bringt.

1:1.

Die Datei „Gerechtigkeit“ öffne ich am Freitag.
Im medizinethischen Kontext taucht das Wort vor allem in Bezug auf die Verteilung von medizinischen Ressourcen auf. Im Zusammenhang mit Enhancement weitet sich der Begriff auf das Verhältnis zwischen den Menschen und ihrem sozioökonomischen Status aus. Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten, konkurrieren um die gleichen Positionen. Würde eine Position erreicht werden, weil jemand Enhancement benutzt und nicht von Natur aus die nötigen Fähigkeiten besitzt, dann wäre das ungerecht, oder? Ich bin der Auffassung, dass vor allem bei unterschiedlichen Fähigkeiten Enhancement mehr Gerechtigkeit bedeuten würde. Wenn die Mehrheit der Menschen Fähigkeiten in ungefähr gleichem Ausmaß besitzt, können die natürlichen Differenzen keine herausragende Rolle spielen, denn die Anstrengungen sind ähnlich hoch. Gibt es eine Mehrheit, ist die Minderheit nicht weit entfernt. Die Minderheit liegt unter dem Durchschnitt und schafft es trotz jeglicher Bemühungen nicht, die geforderten Leistungen zu erbringen. Wenn alle Versuche gescheitert sind, mit Mühe die gleiche Leistung zu erbringen, wäre Enhancement doch gerechtfertigt.

Obwohl wir in einem meritokratischen System leben, können wir nicht leugnen, dass der soziale Hintergrund für sehr große Unterschiede im Lebenslauf sorgt und die Leistungsperformance beeinflusst. Zum Beispiel wird jemand, die*der im Kindesalter anfängt, ein Instrument zu lernen, bei gleicher Veranlagung immer besser sein, als jemand, die*der aufgrund von Armut erst im Erwachsenenalter damit beginnt.

Womit wir wieder beim Anfang wären. Dem Gefühl, nicht dieselben Startbedingungen zu haben, nicht die gleichen Ressourcen, nicht das nötige Equipment, um zu funktionieren und genügend Punkte im Studium zu erreichen, um weiterhin BAföG zu erhalten.

2:1 für Ritalin.

Es ist Samstag. Ich habe die Arbeit fertiggeschrieben. Dass ich dafür eine sehr gute Note bekommen werde, ahne ich nicht, aber mir fehlt die Kraft, sie zu verbessern, obwohl ich sie redundant finde. Ich nehme Ritalin, schaue mir auf YouTube Barbara Bleisch an. Titel der Sendung „Perfekt oder menschlich? Vom Zwang immer besser zu werden“. Sie sagt, gewisse Mittel, die dazu dienen, uns zu verbessern, könnten uns auch dazu dienen, angeborene Chancenungleichheit auszugleichen. Sie ist mir sympathisch. Also warte ich auf die Wirkung der Tablette, freue mich auf mein neues Ich und schlafe auf dem Sofa ein.