Von Inna Barinberg

Mein Bruder und ich haben nicht viel gemeinsam, trotzdem ist er die einzige Person in meiner Familie, die mich schon immer dabei unterstützt hat, so zu sein, wie ich bin. Ich war 16 und er war 10 Jahre alt, als ich mich vor ihm geoutet habe. Selten hatte ich so ein unaufgeregtes Outing. Ihm war es vollkommen gleich, wen ich begehre und wie ich begehre, solange ich glücklich bin, war er es auch. Ich weiß nicht, wie er dieses Thema 6 oder 9 Jahre später aufgefasst hätte, aber ich glaube, dass es damals einfacher war, weil er in seiner Meinung zu Homosexualität noch keine gefestigten Gedanken hatte. Ich glaube nicht, dass Kinder in einem bestimmten Alter grundsätzlich weniger homofeindlich sind oder Heteronormativität weniger verinnerlichen können, aber sie hatten verhältnismäßig weniger Lebensjahre zur Verfügung, damit sich diese Gedanken tief in ihrem Bewusstsein verankern können.

© WoMANtís RANDom/Verlag w_orten&meer
© WoMANtís RANDom/Verlag w_orten&meer

Knapp zehn Jahre später plane ich mit drei anderen Menschen, zwei davon sind meine Partnerinnen und die dritte Person ist die Partnerin meiner Partnerin, Kinder zu bekommen, und denke viel an dieses Outing zurück. Es gibt mir auf eine absurde Art und Weise Hoffnung, dass jedes Kind ein Neuanfang ist und die Werte und Normen, die es umgeben, veränderbar sind. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass, obgleich wir uns unser Zuhause vertraut, geborgen und sicher gestalten, die Welt da draußen größtenteils aus heterosexuellen, monogamen Müttern und Vätern besteht – wie können wir verhindern, dass unser Kind seine eigene Familie infrage stellt?

Vermutlich gar nicht. Deswegen sind die Möglichkeiten, die unsere Vierer-Konstellation eröffnet, umso wichtiger. Das Kind wird vier Bezugspersonen um sich haben. Das bedeutet konkret, vier liebende Menschen, vier Mal so viel Zeit und Energie, vier Mal finanzielle Ressourcen und vier Menschen, die sich gegenseitig unterstützen können. Es bedeutet aber auch mehr Aushandlungsbedarf und mehr Konfliktpotenzial und führt uns unmittelbar vor die Herausforderung, Elternrollen und Verantwortlichkeiten zu definieren. Es gibt jede Menge Hindernisse und Schwierigkeiten, die uns jetzt schon umgeben. Beispielsweise ist es schwer, uns auf einen Samenspender zu einigen, zu zweit wäre das vermutlich einfacher. Außerdem habe ich jetzt schon Angst vor dem Gespräch mit meinen Eltern. Wie erkläre ich ihnen, dass ich kein Bedürfnis danach habe, schwanger zu sein und mit drei anderen Frauen Kinder kriegen möchte? Da prallen Welten aufeinander. Außerdem stehen wir vor der Frage, wie wichtig es jeder Einzelnen von uns ist, dass sie eine rechtlich anerkannte Verbindung zu dem Kind hat. In Deutschland können immer nur zwei Menschen als Erziehungsberechtigte anerkannt werden, alles, was darüber hinausgeht, muss durch Vollmachten geregelt werden. Absurde Vorstellung, dass ich einen Ordner mit Vollmachten in der Tasche haben muss, um mit meinem Kind in den Urlaub zu fahren.

Die Auseinandersetzung damit führt mich unmittelbar zu der Frage nach Besitzansprüchen an Menschen. Klar, es ist wichtig, dass die Zuständigkeiten auf der rechtlichen Ebene geregelt sind, denn falls beispielsweise eine von uns stirbt, soll das Kind nicht ohne anerkannte Erziehungsberechtigte dastehen, oder falls es in ein Krankenhaus muss, sollen wir alle Mitsprache- und Besuchsrecht haben. Aber was ist mit all den anderen Situationen? Wie wichtig ist es mir, dass andere Menschen mich als Bezugsperson oder Erziehungsberechtigte wahrnehmen? Wie will ich Elternrollen definieren? Letztlich geht es um das Kind und nicht um mich. Ich will Verantwortung übernehmen und ich will ein gleichberechtigter Teil in unserer Vierer-Konstellation sein, aber ich will nicht ein Menschenleben für mich beanspruchen. Und ich will erst recht nicht, dass sich das Kind so entwickelt, wie ich es gerne hätte.

Menschen sind unvorhersehbar, es können Dinge auf uns zukommen, die ich so nie erwartet hätte, und Situationen entstehen, mit denen ich nie gerechnet hätte. Was wir jetzt tun, ist, unser Vertrauen zu stärken – Vertrauen in die anderen und Vertrauen in unser Vorhaben. Es bestärkt mich, von anderen polyamoren Eltern zu lesen, weil ich sehe, dass es funktioniert, und wieso sollte es dann nicht auch bei uns funktionieren? Mit großer Freude lese ich zum Beispiel immer und immer wieder das Buch „Gummiband-Familien – Rubberband Families“ oder folge der Autorin Margaret Jacobsen auf der Seite Romper, wo sie über sich als polyamore Mutter schreibt. Dort schreibt sie an einer Stelle: „Their ’normal‘ isn’t the ’normal‘ most people experience, but they’re so deeply loved and cared for that they don’t think twice about it.“ („Ihr ‚Normales‘ ist nicht das ‚Normale‘, das die meisten Menschen erfahren, doch sie werden so innig gebliebt und umsorgt, dass sie nicht viel darüber nachdenken.“)

Als jüdisch-ukrainische Dyke schreibt Inna auf ihrem Blog https://polyplom.wordpress.com über die tägliche Kunst, polyamore Beziehungen zu führen, und gibt mit sehr viel Leidenschaft Workshops zum Thema Eifersucht. Bei dem Anblick von kleinen Babys wird sie ganz aufgeregt.

Für meine Eltern war es immer klar, dass ich ihr Kind bin und sie mich unterstützen, aber sie hatten auch immer eine klare Vorstellung davon, wie sie mich gerne hätten. Dadurch fiel es ihnen schwer, mich dabei zu unterstützen, zu der Person zu werden, die ich werden will, und meinen persönlichen Wachstum zu bestärken. Dabei ist genau das der Dreh und Angelpunkt einer liebenden Beziehung. Jemanden zu lieben bedeutet, einen Menschen darin zu bestärken, so zu sein, wie er ist, und dabei zu unterstützen, so zu werden, wie er sein möchte – mit all seinen Wünschen und Bedürfnissen. Und genau das wünsche ich mir für unser Kind.