Von Vina Yun

In ihrem Buch „Das Bedürfnis nach gerechter Sühne“ (Mandelbaum Verlag 2016) arbeitet Sylvia Köchl die nur wenig bekannte Geschichte der sogenannten Berufsverbrecher*innen und deren Verfolgung unter dem NS-Regime auf. Jahrelang recherchierte die Wiener Politikwissenschaftlerin und Journalistin das Schicksal von acht „Berufsverbrecherinnen“ – Diebinnen und Abtreiberinnen –, die von Österreich nach Ravensbrück deportiert wurden, wo sich das größte Konzentrationslager für Frauen im „Deutschen Reich“ befand. Derart rekonstruiert Köchl auch das menschenverachtende System der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ der Nazis, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen.

Das Lagergelände des ehemaligen Frauen-KZ Ravensbrück: Von den Häftlingsbaracken ist nichts erhalten geblieben. © Sylvia Köchl / Beschnitt: Missy Magazine
Das Lagergelände des ehemaligen Frauen-KZ Ravensbrück: Von den Häftlingsbaracken ist nichts erhalten geblieben. © Sylvia Köchl / Beschnitt: Missy Magazine

Der Titel deines Buchs ist eine Phrase, die dem sogenannten Gewohnheitsverbrechergesetz von 1941 entnommen ist. Wer galt als „Gewohnheits-“ bzw. „Berufsverbrecher*in“ und wie wurden diese identifiziert?
Sylvia Köchl: Diese Begriffe wurden interessanterweise gar nicht von den Nazis erfunden, sondern in dieser Schärfe bereits in der Weimarer Republik entwickelt. Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre starteten rechtsextreme deutsche Kriminalisten eine Kampagne, in der vor allem der Rechtsstaat dieser ersten Republik massiv angegriffen wurde. Die Kampagne zielte auf eine Art Polizeistaat ab, in dem die Kriminalpolizei darüber bestimmen sollte, wer als „Berufsverbrecher*in“ gilt, und in dem die Arbeit der Kripo nicht mehr von den Gerichten überprüft werden sollte. Die Versprechung lautete: Auf diese Weise, also über reine polizeiliche Repression, kann Kriminalität als gesellschaftliches Phänomen beseitigt werden.

Die Nazis waren von dieser Idee begeistert und setzten sie ab 1933 sofort in die Tat um. Sie definierten „Berufsverbrecher*innen“ als Personen, die ihren Lebensunterhalt durch Verbrechen bestritten, die aus „Gewinnsucht“ handelten und die ausreichend einschlägige Vorstrafen hatten. Jene, die nicht exakt unter diese Definition fielen, konnten zu „Gewohnheitsverbrecher*innen“ erklärt werden, die aus „verbrecherischen Trieben und Neigungen“ heraus handelten. Sie alle konnten nun von der Kripo in Konzentrationslager deportiert werden. Das nannte sich dann „polizeiliche Vorbeugungshaft“, denn das war der Grundgedanke: die Betroffenen zur Vorbeugung weiterer Verbrechen, die diese in Zukunft begehen würden, in ein KZ einzusperren.
Begleitet wurden diese Entwicklungen von der pseudowissenschaftlichen Kriminalbiologie. Diese versuchte, das „Verbrecher-Gen“ ausfindig zu machen und mit Schädel- und Gesichtsvermessungen nachzuweisen, dass „geborene Verbrecher“ schon äußerlich erkennbar seien – Stichwort „Verbrechervisage“.

Eine deutsche Volksgemeinschaft, die so homogen wie möglich sein sollte, in der es keine „Störenfriede“ welcher Art auch immer mehr gab, ob politische Gegner*innen oder gesellschaftlich Unangepasste oder sogenannte Rassefeinde, in der diejenigen, die da übrig blieben, in trauter Einheit mit Führer und Partei glücklich und harmonisch leben würden – diese deutsche Volksgemeinschaft herzustellen, war ja das oberste Ziel des NS-Staats. Berufs- und Gewohnheitsverbrecher*innen gehörten mit zu den „inneren Feinden der Volksgemeinschaft“, die die innere Sicherheit bedrohten.

Damals begann die Polizei auch damit, neuartige Arbeitsmethoden anzuwenden. Wie sahen diese aus und was hatten sie mit diesen historischen Entwicklungen zu tun?
Auch diese neuen Methoden entstanden schon vor der Nazizeit. Da gehört einiges dazu, was heute selbstverständlich scheint: etwa die Analyse von Fingerabdrücken oder Werkzeugspuren an Tatorten, aber auch eine Menge an chemischen Analysen, etwa von Blutspuren. All das führte zu ebenfalls neuen Arbeitsteilungen innerhalb der Kripo – es wurden erstmals Morddezernate oder Einbruchsdezernate eingerichtet.

Dann brauchte es aus Sicht der Kripo auch eine bessere Datenaufbereitung, also ein Karteikartensystem, mit dem Informationen austauschbar wurden, indem sie im ganzen Land einheitlich kodiert wurden. Einer der wichtigsten Forscher auf diesem Gebiet, Patrick Wagner in Hamburg, meint, dass sich auf diese Weise der damalige Fokus, das „Raster“ der Kripo dermaßen verengte, dass sie am Ende wirklich glaubte, von einem unglaublich aktiven „Berufsverbrechertum“ umgeben zu sein, das die innere Sicherheit, besonders in den Städten, enorm bedrohte – eine klassische „self-fulfilling prophecy“.

Die Kripo legte bei der Inszenierung dieses „Berufsverbrechertums“ ein absolut klassenspezifisches Raster an. Die so erzeugten Bilder korrespondierten exakt mit den Ängsten des Bürgertums in den Städten, das die Sicherheit seines Eigentums bedroht sah von den „Massen“, die an den Rändern der Städte lebten, in der sprichwörtlichen „wilden Vorstadt“, und die zur Zeit der Weltwirtschaftskrise ganz furchtbar unter Arbeitslosigkeit und Verarmung und oft sogar Hunger litten. Es ist klar, wer dann am Ende als „Berufsverbrecher*in“ herausgefiltert wurde, wer in diesem sozial und rassistisch gerasterten polizeilichen Blick auffiel – und wer nicht.

Anhand der Lebensgeschichten verschiedener Frauen, die ins KZ Ravensbrück deportiert wurden, rekonstruierst du das Schicksal von acht „Berufsverbrecherinnen“ aus Österreich: Diebinnen und Abtreiberinnen. Welche Gefahr sahen die Nazis in diesen Frauen?
Diebinnen gehörten zu jenen Menschen, die für die Nazis den Kern des „Berufsverbrechertums“ ausmachten, den es zu vernichten galt, um das Phänomen Kriminalität loszuwerden. Diebinnen, also Frauen, die mehrfach wegen Eigentumsdelikten gerichtlich vorbestraft waren, waren stark gefährdet, bei der nächsten „Auffälligkeit“ dann als „Berufsverbrecherinnen“ mit dem „Grünen Winkel“ im KZ zu landen. Abtreibung an deutschen Frauen wiederum galt den Nazis als Verbrechen, das direkt gegen die Volksgemeinschaft gerichtet war. Der NS-Staat wollte die totale Verfügungsgewalt haben über den Volkskörper – im wahrsten Sinn des Wortes.

© Sylvia Köchl
Auszug aus dem Gerichtsakt gegen eine Tiroler „Berufsverbrecherin“, die 1942 von der Kripo ins Frauen-KZ Ravensbrück deportiert wurde. © Sylvia Köchl

 

Über die Verfolgung der „Berufsverbrecher*innen“ durch die Nationalsozialisten wird erst seit Kurzem geforscht. Was hat dich am Schicksal dieser KZ-Häftlingsgruppe interessiert?
Im Grunde genau das: Dass wir praktisch nichts über sie wissen. Und dass gleichzeitig dauernd behauptet wird, die ganze Nazi- und KZ-Geschichte sei doch inzwischen komplett erforscht, weswegen auch immer weniger Geld dafür bereitgestellt wird.

Ich bin seit ungefähr Mitte der 1990er-Jahre in der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück, einer Selbstorganisation von KZ-Überlebenden und ihren Unterstützer*innen, aktiv. In mehreren Projekten haben wir versucht, die vielen verschiedenen Verfolgungszusammenhänge, denen Frauen im Nationalsozialismus zum Opfer gefallen sind, umfassend zu erforschen und darzustellen. Erst 2006 gelang es uns erstmals, die Geschichte einer österreichischen „Berufsverbrecherin“ zu veröffentlichen, die im KZ Ravensbrück den „Grünen Winkel“ als Kennzeichnung an der Häftlingskleidung tragen musste.

Das hat mich nicht mehr losgelassen: Dass es da eine ganze Opfergruppe gibt, die unbekannt ist und über die auch nur ungern gesprochen wurde von den Ravensbrück-Überlebenden, die ich noch kennengelernt habe – die übrigens alle ehemalige Widerstandskämpferinnen waren. Das Thema der „grünwinkligen“ Frauen in Ravensbrück sei ein zu schwieriges Thema, bekam ich zu hören, und viel zu kompliziert, um es sozusagen im polit-aktivistischen Alltag der Lagergemeinschaft erklären zu können.
Zu schwierig und zu kompliziert – mich hat das eher angestachelt als abgeschreckt. Und während der Arbeit am Buch kamen dann weitere Motivationen hinzu. In den Lebensgeschichten der Frauen entdeckte ich vieles, das meinen eigenen Erfahrungen entspricht: vom Leben in der „Unterschicht“, von Armut und, besonders für Frauen, kaum existierenden Bildungschancen, stattdessen ein prekärer Job nach dem anderen, und jedes Kind, ob gewollt oder nicht, verschlechterte die wirtschaftliche Situation massiv. Tatsache ist, dass diese Frauen sich an irgendeinem Punkt dafür entschieden haben, ein Verbrechen zu begehen, um etwas dazuzuverdienen, wenn die Alternativen schlimmer erschienen als die Gefahr, erwischt zu werden und ins Gefängnis zu müssen. Die meisten Frauen entschieden sich ja gegen den Weg in die Kriminalität, einen damals wie heute ganz und gar „unweiblichen“ Weg, und ich denke, gerade das hat mich an diesen Geschichten zusätzlich gereizt.

Nehmen denn die „Berufsverbrecher*innen“ in den Lagergemeinschaften und anderen KZ-Opferorganisationen wirklich gar keine Rolle ein?
Nein, eine aktive Rolle nehmen sie, soweit ich es weiß, nirgends ein, aber durchaus eine passive Rolle. Sie werden in den schriftlichen Berichten der Überlebenden, die ja überwiegend von ehemals politisch Verfolgten verfasst wurden, ziemlich oft erwähnt. Aber fast ausschließlich in negativer Weise, nämlich als gefährliche und unsolidarische Mithäftlinge, denen nicht zu trauen gewesen sei.

Bis heute haben „Berufsverbrecher*innen“ als „vergessene Opfer“ des NS-Regimes keine Lobby und werden nicht entschädigt. Mit welchem Argument wird ihnen der offizielle Opferstatus verweigert?
„Vergessene Opfer“ ist gut ausgedrückt, denn es gab einen einzigen Versuch der Selbstorganisierung, und zwar 1946. Die Organisation nannte sich damals schon „Schicksalsgemeinschaft der Vergessenen“. Sie versuchte, in Deutschland für Menschen, die die Verfolgung als Homosexuelle, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher*innen“ überlebt hatten, jene Fürsorgeleistungen zu erreichen, die für andere Opfergruppen vorgesehen waren. Diese „Schicksalsgemeinschaft“ existierte jedoch nur sehr kurz, denn es wurde ihr nicht nur die offizielle Organisierung untersagt, sie dürfte auch übel beschimpft worden sein.

In den Nachkriegsgesellschaften Deutschlands und Österreichs, in denen sogar die politischen Opfer erbittert um Anerkennung streiten mussten, gab es für KZ-Überlebende mit dem „falschen“ Winkel eigentlich gar keinen Platz. In diesem Klima ist in Österreich ein Opferfürsorgegesetz entstanden, in dem bis heute im Paragraf 15 festgeschrieben ist, dass vorbestrafte NS-Opfer wegen „Missbrauchsgefahr“ keine Fürsorgeleistungen erhalten dürfen. Dieser Paragraf muss endlich abgeschafft werden! Nicht nur deswegen, weil er die „Berufsverbrecher*innen“ als ganze Gruppe betrifft, sondern weil er auch alle anderen Opfer, die Vorstrafen haben, angeht, völlig egal, was ihnen alles zugestoßen ist. Eine Änderung des Paragrafen hätte heute nur noch symbolischen Charakter – aber wir dürfen nicht unterschätzen, was es etwa für Angehörige bedeutet, wenn ihre Vorfahren endlich als NS-Opfer anerkannt würden und sie sich ihrer Familiengeschichte offener und mit weniger Angst vor neuerlichen Diskriminierungen zuwenden könnten.

In deinem Buch beschreibst du ausführlich den langjährigen Rechercheprozess selbst – und damit auch das gesellschaftliche Umfeld, das ein Nachforschen ermutigt oder aber behindert. Mit welchen Schwierigkeiten warst du dabei konfrontiert?
Abgesehen von der vielen Unterstützung, die ich erfahren habe, war das schon ein holpriger Ritt. Ein Problem war sicher der institutionelle Rückhalt, der bei mir fehlt, denn ich war und bin weder an einer Uni beschäftigt noch an einem wissenschaftlichen Institut. Mir scheint, da taucht dann bei vielen schnell die Frage der wissenschaftlichen Seriosität auf. Es mag unglaublich klingen: Dass ich Politikwissenschaftlerin bin und keine Historikerin, hat tatsächlich dazu geführt, dass mir eine wichtige Projektfinanzierung verweigert wurde. Gleichzeitig hatte ich aber auch nicht die geringste Lust, meine Forschung im Rahmen einer Dissertation zu machen, weil ich unabhängig von den universitären Zwängen arbeiten wollte. Ich wollte, dass der Output für alle Interessierten lesbar ist und nicht nur von einer akademischen Community, die das einschlägige Wording versteht. Es ist schade, dass es in Österreich keine wirkliche Kultur von Forschung und Wissenschaft außerhalb von akademischen Institutionen gibt.

Ich denke, das alles verknüpfte sich auch mit meinem Thema. Mir ist durchaus Misstrauen entgegengebracht worden, und zwar ausgerechnet von Kreisen, die selber sehr nah am KZ-Thema dran sind. Die Beschäftigung mit der KZ-Häftlingsgruppe der „Berufsverbrecherinnen“ scheint hier bei manchen die Befürchtung auszulösen, Leute wie ich wollten das bisherige Wissen über die KZs infrage stellen. Diese Befürchtung ist nicht unberechtigt: Unser Wissen über die KZs haben wir zum größten Teil von den Überlebenden erhalten. Von ihnen konnten und durften aber fast nur jene öffentlich sprechen, die als politische Gegner*innen der Nazis verfolgt wurden. Und innerhalb dieser Gruppe mussten sich die Frauen noch mal extra behaupten, um überhaupt wahr- und ernst genommen zu werden.

Termine

22. April, 11.00 Uhr, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück: Buchvorstellung mit Sylvia Köchl zur Geschichte der „grünwinkligen“ Häftlingsfrauen. Im Rahmen des 72. Jahrestags der Befreiung des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück.

25. April, k-fetisch, Berlin, Abendveranstaltung gemeinsam mit Dagmar Lieske, Autorin des Buches „Unbequeme Opfer? ‚Berufsverbrecher‘ als Häftlinge des KZ Sachsenhausen“, veranstaltet u.a. von Helle Panke e.V.

Von Ravensbrück wissen wir, dass von mindestens sechzig Prozent der knapp 100.000 Überlebenden unbekannt ist, wie sie die KZ-Haft erlebt haben, wie ihre Verfolgung und Verschleppung abgelaufen ist. Dazu gehören die ukrainischen Zwangsarbeiterinnen genauso wie die vielen „Asozialen“ und eben auch die „Berufsverbrecherinnen“ aus Deutschland und Österreich. Dabei waren der Grund der Verfolgung und die Markierung mit einem bestimmten Häftlingswinkel ausschlaggebend für die Existenzbedingungen und Überlebenschancen der Frauen. Von einem auch nur halbwegs vollständigen Bild der Geschichte und Nachgeschichte von Ravensbrück und den anderen KZs sind wir also immer noch weit entfernt.