Von Tove Tovesson

Ich habe nur bruchstückhafte Erinnerungen daran, von meinen Eltern oder in der Schule aufgeklärt worden zu sein. Die Lücken habe ich mit Gruselgeschichten aus dem kollektiven Gedächtnis, wie Aufklärung eben so ist — etwas peinlich und generell unzureichend —, gefüllt. Ich erinnere mich an zwei Bücher, den Klassiker „Peter, Ida und Minimum“ und einen mit Fotos illustrierten Band über Schwangerschaft, bei dem mich besonders eine Seite beschäftigte. Sie zeigte eine junge Frau, die voll bekleidet in der Meeresbrandung steht, das Kapitel dazu hieß „Eisprung“, von mir gelesen als „Eis-Sprung“. Wohl, weil das Meer kalt ist, aber weiter reichte meine Erklärung nicht.

Auf eine Zigarette danach mit der Raupe Nimmersatt und der Mutter in der Jeansjacke. @ Tine Fetz

Als Leseanfänger*in schnappte ich nur Brocken aus dem Text auf und mein Verständnis vom hormonellen Zyklus vermischte sich mit der Vorstellung, dass Leute für ihren Eissprung regelmäßig nach St. Peter-Ording fahren müssen, und mit meinem Biologiewissen aus „Die kleine Raupe Nimmersatt“. So blieb dieses Aufklärungsbuch voller Geheimnisse und warf mehr Fragen auf, als es beantwortete. Zum Beispiel auch, warum die Frau auf dem einen Bild im Bett eine Jeansjacke trug und nichts darunter. (Antwort: Weil es die 1980er waren.)

Mir schien diese „Information“ jedenfalls genauso relevant für Sex wie jede andere unsinnige Information, die ich in Ermangelung von Verständnis sehr wörtlich nahm. So auch die Formulierung, „miteinander schlafen“ oder „eine Nacht miteinander verbringen“. Ich könnte nun einen Witz darüber machen, welch große Enttäuschung ich ungefähr zehn Jahre später erlebte, aber eigentlich war es eine Erleichterung herauszufinden, dass Sex nicht so lange wie die Bahnfahrt zu Oma und Opa oder die Autofahrt in den Familienurlaub dauern muss, auf der mir immer übel wurde.

Meine Kindersorgen hinsichtlich Aufklärung waren offenbar hauptsächlich logistischer Natur, zumindest erinnere ich mich daran, meine Mutter gefragt zu haben, was Leute tun, wenn sie beim Sex mal auf die Toilette müssen. Im Zug gibt es Toiletten, auf der Autobahn Raststätten, aber beim Sex? Meine Mutter antwortete mir leicht verkrampft und final, „Man muss da nicht!“, was mir verdächtig vorkam und meine Sorgen nicht minderte.

Bis es dann so weit war, hatten sich diese ganzen known Unknowns, also Dinge, von denen ich wusste, dass ich sie nicht weiß, irgendwie geklärt, danke Internet. Es blieb ein Berg von unknown Unknowns, verdeckt von einer Schicksalsergebenheit gegenüber obligatorischer cis Heterosexualität. Auch wenn mir immer noch schleierhaft war wieso, wusste ich nun, dass alle und so auch ich da durch müssen, sei es nun als Hetero- oder als Homosexuelle. Mir war in diesem Rahmen zwar die Idee von Konsens bekannt, also dass ich nein sagen kann, aber es war trotzdem klar, dass dieses Nein nicht für immer gelten kann, danke Rape Culture.

Wo Heterosexualität normativ ist, bezieht sich diese Norm eben nicht nur darauf, selbstverständlich hetero zu sein, sondern macht auch Sexualität zur Pflicht. Weitere implizite Normen, die schon Peter-Ida-und-Minimum-Aufklärung transportiert, beziehen sich auf Körper und Geschlecht: Der angenommene Normmensch ist cisgender, also das ihm bei (oder vor) Geburt zugeschriebene Geschlecht stimmt überein mit seinem tatsächlichen Geschlecht, und er ist dyadisch, also nicht intersex.

Von Asexualität als legitimer Orientierung hatte ich nie gehört, höchstens von sogenannten frigiden Frauen und pathologisiertem (fehlendem) Begehren und all den Ideen, die Rape Culture zur „Heilung“ ersinnt. (Das Problem hierbei ist nicht nur und in erster Linie, etwas als Krankheit zu bezeichnen, das keine ist, sondern wie eine ableistische Gesellschaft mit ihren Kranken umgeht. Sie hält sie für minderwertig und behandelt sie entsprechend. Diese Behandlung kann ich für Kranke jedoch genau so wenig gutheißen wie für fälschlicherweise als krank Bezeichnete.)

Wo die Begriffe fehlen, ist es schwierig mit der Positionierung. Der Vorwurf, beispielsweise „transtrender“ zu sein, also nur trans, weil das jetzt modisch ist, ignoriert das Vakuum, das Begriffen, die sich plötzlich verbreiten, vorausgegangen sein muss. (Und selbst wenn Aufmerksamkeitsmangel dabei eine Rolle spielt, was ist das Problem daran, „nur Aufmerksamkeit“ zu wollen? Eigentlich ein ziemlich schlüssiger Wunsch in Bezug auf marginalisierte Identitätsaspekte und überhaupt ein schönes Leben.) Wenn mit den neuen Begriffen, die für Identitäten und Begehren gefunden werden, kein tiefer gehender Inhalt verknüpft wäre, für den diese Begriffe fehlten, würden sie sich nicht etablieren.

Dies muss nicht immer emanzipatorisch sein, wie beispielsweise der Begriff „sapiosexuell“, der sexuelle Anziehung mit Intellekt verknüpfen will und damit doch nur ableistisch und oft klassistisch ist, oder „transracial“, das plump die soziale Konstruiertheit von Geschlecht mit der sozialen Konstruiertheit von Race gleichsetzt und damit Rassismus und Transfeindlichkeit beinhaltet. Es gibt eben auch ein Vakuum für die differenzierte (Selbst-)Bezeichnung von Kackleuten, die nicht immer nur Nazi, sondern lieber Alt-Right heißen wollen.

Diese Label, die andere sich selbst geben, für sie zu verwenden und ihnen Raum zu geben, ist eine Form von Validierung, sie zu verweigern, eine Absage an ihre Legitimität — nicht nur der Label, sondern ihrer Inhalte. Nun wird über Dyacisheterosexualität auch nicht permanent geredet, eben mit Ausnahme des für alle Beteiligten peinlichen Aufklärungsunterrichts, so könnte man meinen. Für Menschen, die diesen Normen weitestgehend entsprechen, ist das Thema offenbar herrlich nonexistent. Und wirklich, wo kommt es denn schon vor, außer ungefähr überall im Alltag?

Tatsächlich aus dem öffentlichen Raum verbannt ist die Abweichung, weshalb Aufklärung unter Berücksichtigung der LGBTIQ-Community als „Frühsexualisierung“ in die Schmuddelecke bugsiert wird. Dieser Einteilung hat sich nun auch YouTube angeschlossen, indem dort ein (opt-in) Filtermodus zur Verfügung steht, der Videos zu angeblich sensiblen oder nicht jugendfreien Themen herausfiltert, in der Praxis jedoch vor allem LGBTIQ-YouTuber*innen trifft.

Dies ist aus mehreren Gründen problematisch: Viele queere YouTuber*innen bestreiten durch ihren Videokanal ihren Lebensunterhalt, zumal insbesondere trans Frauen auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert werden und häufiger erwerbslos sind. Für viele queere Jugendliche bieten Plattformen wie YouTube und Tumblr außerdem die einzige oder wenigstens eine wichtige Möglichkeit zum Austausch, zur gegenseitigen Information und zum Bilden von unterstützenden Netzwerken. Der Filter ist ein Service für ihre queerfeindlichen Eltern. Depression und andere psychische Erkrankungen sind nicht assoziiert mit Queerness an sich, sehr wohl aber der gesellschaftlichen Stigmatisierung queerer Menschen. Die Unterdrückung ihrer Stimmen ist jugendgefährdend in einer existenziellen Weise.