Von Maxi Braun

Rogash, Mitglied des Transnationalen Ensembles Labsa, steht auf der Bühne im Scheinwerferlicht. Er atmet einmal kurz durch. Er streift sein Axelshirt mit der Aufschrift „It’s weekend, bitches!“ ab, darunter kommen Brustmuskeln und Sixpack zum Vorschein, auf die der junge Mann sichtlich stolz ist. Dann beginnt er, Seil zu springen. Seine Brustmuskeln wippen, der Sixpack glänzt. Er wird immer schneller und steigert die irre Seilspringnummer bis zu einer wahnwitzigen Geschwindigkeit. Das Publikum beim 30. Internationalen Frauenfilmfestival – mehrheitlich weiblich und überzeugt feministisch – klatscht im Takt und johlt. Da soll noch mal jemand behaupten, Feminismus und Humor, das passe nicht zusammen.

Die Rabenmütter-Knetfiguren aus „Moms on Fire“ von Joanna Rytel. © Internationales Frauenfilmfestival Köln | Dortmund

Dreißig Jahre Frauenfilmfestival Dortmund | Köln, das heißt drei Jahrzehnte Stärkung feministischer Diskurse im und über Film und Vernetzung von weiblichen Filmschaffenden auf internationaler Ebene. Bei der diesjährigen Ausgabe wurden mehr als 120 Filme gezeigt, unterschiedlich in Genre, Form und Ästhetik. Alle stammen von Regisseurinnen (bis auf die Beiträge der filmhistorischen Reihe). Der Anteil von Drehbuchschreiberinnen und Kamerafrauen ist überdurchschnittlich hoch. Neben den reinen Lang- und Kurzfilmprogrammen ist 2017 auch der Anteil an Performances gewachsen und hat das Spektrum des Festivals um weitere Formen feministischer Kunst erweitert. Zwei dieser interdisziplinären Veranstaltungen haben dabei besonderen Eindruck hinterlassen.

Einen furiosen Mix aus Performance, Lesung, Poetry, Tanz und Video liefert das Transnationale Ensemble Labsa ab. 27 junge Menschen mit und ohne Fluchterfahrung aus 17 Nationen erarbeiten dabei künstlerische Projekte. Das Ensemble ist Teil des gemeinnützigen Vereins Labsa, der 2007 als „Labor für sensorische Annehmlichkeiten“ in Dortmund gegründet wurde und interdisziplinär arbeitet. Emilia Hagelganz ist eine der Mitbegründerinnen und neben Lena Tempich und Anna Buchta eine der Künstlerinnen, die bei der Projektentwicklung hilft. Sie selbst kam vor mehr als 20 Jahren aus Russland und findet: „Improvisation ist das Einzige, worauf wir uns im Leben verlassen können.“ Das gilt auch für den Abend mit dem Ensemble im sweetSixteen-Kino in Dortmund.

Gezeigt werden zum Beispiel acht Videos, die das Ensemble in den letzten zwei Jahren realisiert hat. In „Wohnungssuche“ werfen groteske Maskengesichter gierige Blicke in ein Papphaus, dessen Wände mit Blanko-Passpapieren ausgekleidet sind. Die Betrachter*innen sind perspektivisch in der Wohnung ihren Blicken ausgesetzt und Teil der schlichten Behausung. Menschen ohne Flucht- oder Migrationserfahrung, die das Video sehen, kennen das Problem, aufgrund der eigenen Herkunft keine Wohnung zu bekommen, nicht und werfen so einen voyeuristischen Blick zurück auf die, die ausgeschlossen sind.

Ein anderes Video lässt die Protagonist*innen Briefe an ihre Heimat vortragen, auf Deutsch, Englisch, Französisch. Die Verfasser*innen stammen aus Afghanistan, von der Elfenbeinküste, aus Guniea oder Eritrea, ihre Botschaften verraten ebenso viel über die verlorene Heimat wie die neu gefundene. Seruta aus Sierre Leone genießt heiße Milch mit Honig und findet, dass auch Deutschland „a country full of milk and honey“ sei. Wehmut, Verlust und Einsamkeit durchziehen diese Briefbotschaften, aber auch ein Gefühl des Ankommens.

In kurzen Clips unter dem Titel „Sugar Snap TV“ philosophiert Fortune regelmäßig im Netz zu bestimmten Themen. Im gezeigten Video stellt sie vier Minuten lang Überlegungen zu „Nationalität“ an: „Was hast du richtig gemacht und ich falsch? Ist das Leben eine Prüfung, die ich schon verloren habe, als ich in Afrika geboren wurde?“

Bei den von Live-Musik begleiteten Performances treten die meisten Protagonist*innen aus den Videos noch mal live auf die Bühne. Neben HipHop, Tanz und lyrischen Vorträgen hinterlässt vor allem Amirs Auftritt Eindruck. Er erzählt von seiner Kindheit in Afghanistan, wo er als Kind beim Ziegenhüten von einem Mann um Obdach gebeten wurde. Amir nimmt den Fremden mit, erst die Eltern merken, dass es sich um eine verkleidete Frau handelt, die vor ihrem gewalttätigen Ehemann geflohen ist. Sie darf nicht im Dorf bleiben und wird zurück zu ihrem Mann gebracht. Amir hört erst später, dass die Frau zur Strafe für ihre Flucht gesteinigt wurde. Der junge Mann mit den langen Haaren streift sich ein rosafarbenes Kleid über und widmet dieser Frau einen wilden, ekstatisch endenden Tanz.

Die Darsteller agieren entgegen gängiger Geschlechterrollen und gleichzeitig gegen westlich-europäische Vorurteile bezüglich Geschlechterrollen in nicht-westlichen Ländern. Für ein Frauenfilmfestival sind sehr viele Männer auf der Bühne – genau genommen alle bis auf Emilia. „Frauen überwiegen im Team, aber die Darsteller*innen sind zu drei Vierteln männlich. Das bildet aber auch die Demografie der Fluchtbewegungen ab. Es kommen nun mal mehr Männer“, erklärt Emilia. „Viele der Frauen, die hier ankommen, gehen einen anderen Weg, kümmern sich um Kinder und die Familie, statt sich künstlerisch zu betätigen.“

In den zwei Stunden, die das Transnationale Ensemble Labsa performt, spielen Geschlecht, Herkunft und alles andere, was Menschen trennt, keine Rolle. Die gemeinsame Sprache der Kunst hilft zu verstehen, was es bedeutet, fremd zu sein, veranschaulicht dies subtil und trotzdem politisch. „Wenn wir uns treffen, geht es nur um die Projekte und darum, diese zu fühlen. Es wird von außen aber natürlich als Politikum betrachtet“, bringt Emilia diese Verbindung von Kunst und politischer Botschaft auf den Punkt.

Lisa Gornick’s „Lesbian Film Live Drawing Show“
Eine andere performative Veranstaltung ist die lange Kurzfilmnacht, die durch die Performances „Whats good?“ und Lisa Gornicks „Lesbian Film Live Drawing Show“ gerahmt wird. Gornick, britische Filmemacherin, Künstlerin und Performerin, ist hier vor allem Entertainerin. Wie in ihrem Atelier sitzt sie hinter einem Schreibtisch und entwirft zeichnend Geschichten und Anekdoten rund um ihr Werk, alles live auf die Leinwand projiziert.

Bekannt geworden ist Gornick durch ihr Langfilmdebüt „Do I Love You?“ (2003), eine urbane, lesbische Break-up-Story. Zuerst protzt sie mit Kritiker*innenlob für ihren ersten Film, um danach genüsslich die schlechtesten Amazon-User-Bewertungen zu rezitieren. Ungezwungen plaudert sie über den Uniformfetisch diverser Liebhaberinnen, alle inspiriert von dem 1930er-Jahre-Spielfilm „Mädchen in Uniform“ von Leontine Sagan, laut Gornick der erste lesbische Film überhaupt. Später schikaniert Gornick ein anderes Genre des lesbischen Films: „You know who gets the money for lesbian films? Right, men do, for lesbian porn.“ Langmähnige, großbusige Frauen mit langen Fingernägeln entstehen unter Gornicks Strichen.

Obwohl sich auf Gornicks Aufforderung „Are there any non-lesbians?“ so gut wie niemand als hetero outet, scheinen lesbische Kultfilme wie Lisa Cholodenkos „High Art“ oder Donna Deitchs „Desert Hearts“ weitgehend unbekannt, vielleicht ist das Publikum auch einfach zu schüchtern. Die US-amerikanische Filmemacherin Su Friedrich, die zufällig im Publikum sitzt, rettet Gornick schließlich die Show. In rauchigem Englisch schildert Friedrich aus der letzten Reihe den Plot von „Desert Hearts“, den Gornick parallel zeichnend erzählt. Friedrich ist beim Frauenfilmfestival mit zwei Dokumentationen über ihre deutsche Mutter, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Chicago emigrierte, zu Gast.

Durch den Abend führt Gornick. Ihr neuer Langfilm ist übrigens zu keinem lesbischen Filmfestival zugelassen worden. „They told me it’s not lesbian enough … what the hell is that supposed to mean?“

Abschließend erschafft sie noch in zarten Aquarellstrichen einen erotischen Moment zwischen einer gewissen „Angela“ und einer „Theresa“, von denen Letztere immer wieder haucht „Don’t leave me“ – ein zärtlicherer Kommentar auf die Brexit-Verhandlungen ist kaum denkbar.

Was für den lesbischen Film gilt, stimmt auch für den feministischen. Das anschließende Kurzfilmprogramm zeigt kluge, witzige und provokative Werke von Regisseurinnen, genauso vielfältig wie feministische Strömungen heutzutage sind. Marion Pfaus steuert neben „Women acting like Staubsaugerroboter“ (der hält, was der Titel verspricht) noch zwei Persiflagen auf den Comedian Mario Barth bei. Die „entspezialisierte Medienartistin“ aus Berlin offenbart mit ihrer lippensynchronen Imitation, wie stereotyp, aber vor allem platt und langweilig Barths Witze sind.

In Renata Gasiorowska Animationsfilm „Cipka“ (polnisch für Pussy) wird eine junge Frau so oft beim friedlichen Masturbieren gestört, bis ihre Vulva die Schnauze voll hat und davonhüpft. Erst im Flur – angewachsen auf die Größe einer Bulldogge, die den Nachbarn knurrend verjagt und aussieht, wie ich mir Gregor Samsa vorstelle – kann die überdrehte Pussy mit fröhlich grinsendem Klitoris-Köpfchen wieder in die Wohnung bugsiert werden. Dort genießt sie losgelöst vom Schoß sämtliche sensorische Genüsse des Interieurs, vom Teppichboden bis zur Haarbürste.

Aus Polen stammt auch Zofia Kawaleskas Dokumentation „Więzi“ (Close Ties). Das Kammerspiel in Schwarz-Weiß zeigt den Alltag eines Ehepaares kurz vor dem 45. Hochzeitstag. War sie schon immer ein kontrollsüchtiger Drachen? Oder liegt es daran, dass er zwischendurch acht Jahre lang verschwunden war und mit einer anderen Frau zusammengelebt hat? Wenn sich neckt, was sich liebt, sind Barbaras und Zdzisławs Wortgefechte die Love-Story des Jahrtausends. Irgendwo zwischen Vorhaltungen, Zynismus und emotionalen Fleischwunden der Paarbeziehung hat die erst 22-jährige Regisseurin ein Gefühl lebenslanger Verbundenheit zwischen zwei Menschen aufgespürt, das schwer beschreibbar ist.

Höhepunkt ist der schwedische Animationsfilm „Moms on Fire“ von Joanna Rytel. Zwei Mütter, vier Tage vor der Geburt. Die Männer sind nicht da und ohnehin nicht identisch mit den leiblichen Vätern, die Erstgeborenen fungieren als Erzähler und rauchen Bleistifte. Die beiden Hochschwangeren streicheln ihre Wampen und einander, träumen von Koks und flotten Dreiern, Masturbieren und tauschen Zungenküsse mit der Katze. Alles in einer Knetoptik, als hätte man Wallace & Gromit in einen Mixer gestopft, grauenvoll verstümmelt und lieblos zusammengepappt, was übrig war. Am Ende bleiben die nutz- und gesichtslosen Väter mit den Kuckuckskindern zurück, die Mütter setzen sich nach Jamaika ab.

Bei so viel abwechslungsreicher Filmkost ist verschmerzbar, dass die LGBTQ- und Riot-Grrrl-Performance „What’s Good“ von Katharina Merten und Grafikdesignerin Anja Kaiser eine wahnsinnig aufwendige, aber an der digitalen Oberfläche verharrende Collage bleibt. Ein bisschen „Paris Is Burning“ hier, ein wenig Kritik am feministischen Tinder dort, dazu pseudoprivate Chat-Fragmente und Schmink-Tutorial-Schleifen, zwischen denen Porno-Gifs und Avatare aufpoppen, das alles live gestreamt. Vielleicht ist die Performance spannender, wenn all die kleinen Zitationen und popkulturellen Fetzen bekannt sind, vielleicht bin ich auch eine Generation zu alt für so viel eklektisches Bling-Bling. Immerhin die beiden DJanes haben ihren Spaß.