Von Amelia Umuhire

„Blinder als blind ist der Ängstliche“

Max Frisch

Brüssel, April 2017

Seit über einem Jahr sind in Brüssel die Anwesenheit von Soldaten und andere Inszenierungen des Ausnahmezustandes an öffentlichen Plätzen normal geworden. Im Bahnhof patrouillieren junge, hübsche Männer in gut sitzenden Uniformen leicht gelangweilt herum. Ihre großen Gewehre hängen lässig herunter und wenn ich sie so sehe, muss ich komischerweise an Magic Mike denken.

Vor dem Brüsseler Bahnhof. © Tine Fetz

Vor dem Bahnhof steht ein Militärlaster ohne Personal und ersichtlichen Grund herum. Und neben dem Laster, als Teil einer Werbeaktion und unglücklichen Pointe, ein Bus mit der Aufschrift „Safe Sex“, aus dem elektronische Musik dröhnt und Kondome verteilt werden.

Europäische Werte 2017.

Es ist Sonntag und ich bin auf dem Weg zu meiner Tante, die in einem kleinen Vorort lebt. Sie ist die Schwester meines Vaters und die einzige Überlebende in einer Familie mit sieben Kindern. Die anderen starben im Genozid an den Tutsi in Ruanda.

Im April 1994, vor 23 Jahren.

Als sie mich abholt, fahren wir als Allererstes zum Metzger. Es ist ungewöhnlich warm und sonnig und wir und gefühlt halb Belgien wollen heute grillen. Während sie beim Metzger eine Nummer zieht, warte ich im Auto und creme mich ein. Sie hatte, wie so oft, bereits in den ersten Minuten unseres Treffens meine trockenen Ellbogen betrauert.

Als sie sich wieder ins Auto setzt, reicht sie mir die Tüte mit dem kaltnassen Fleisch und erzählt mir, dass später ein paar Leute zum Grillen vorbeikommen werden.

Ein Freund meines Vaters wird auch dabei sein. Als er mich sieht, fragt er erstaunt, ob ich die Tochter meines Vaters sei, und ich frage mich, wie es sein muss, seinen Klassenkameraden 23 Jahre später in dem Körper einer jungen Frau wiederzuerkennen.

Später, als ich schon das erste Rosé-Glas hinter mir habe, erzählt er mir von ihrer gemeinsamen Zeit in einem Kolleg in Rwanda.

Währenddessen gibt mir meine Tante Anweisungen. Sie weiß um meine Kochfaulheit und gibt mir simple Aufträge. Schüssel waschen. Schere aus der zweiten Schublade holen, Petersilie schneiden.

Zwischendurch starre ich ihn an und versuche mir anhand dieses alten Mannes vorzustellen, wie der junge Mann aus seinen Erzählungen jetzt aussehen würde.

Am Abend fliege ich wieder zurück.

In der Schlange vor der Sicherheitskontrolle reihe ich mich instinktiv dort ein, wo weniger Familien stehen.

Neben mir, in der anderen Schlange, steht eine orthodoxe, jüdische Familie, in der die Kinder englisch und die Eltern niederländisch miteinander sprechen.

Vor ihnen stehen zwei muslimische Frauen mit Kinderwagen, die sich auf Französisch unterhalten. Als ich fast dran bin, reiht sich hinter mir eine weiße, belgische Frau mit ihrer Tochter ein.

Die Tochter trägt ein pinkes Oberteil und eine pinke Hose und erinnert mich an die Mädchen, die in der Grundschule die besten Diddl-Sammlungen besaßen.

Ihre Mutter ist braun gebrannt. Auch sie sprechen französisch.

Auf den Gesichtern aller Eltern ist die erschöpfte Zufriedenheit von Menschen, die mit Kindern reisen, zu erkennen.

Ich versuche mir vorzustellen, wie wir wohl damals in so einer Schlange aussahen. Eine androgyne, junge Schwarze Mutter und drei kleine Mädchen, die deutsch miteinander sprechen.

„Any laptops, tablets?“

Neben mir ist die orthodoxe Familie dabei, ihr Gepäck zu sortieren.

In einer dieser routinierten Choreografien einer gut organisierten Familie wird dem älteren Jungen sein kleiner Bruder gereicht. „Pay attention, it’s a human“, sagt die Mutter und lacht dabei den Sicherheitsbeamten an, der sie ungeduldig durch den Metalldetektor winkt.

Ich bin nicht die Einzige, die die Familie aufmerksam beobachtet. Als die pinke, wallonische Prinzessin hinter mir den Jungen mit der Kippa und den Locken bemerkt, fragt sie ihre Mutter neugierig, ob der da ein Junge sei.

Die Mutter zögert nicht lang und antwortet voller Gewissheit:

„Nein, nein. Das da sind Extremisten.“