Von Amelia Umuhire

Über manche Erfahrungen lässt sich nur schreiben, wenn sie schon verdaut sind. Und manche sind so dicht, dass sie mich verstopfen, wie es sonst nur Bananen schaffen.  Ich war die letzten Wochen in Goma, einer Stadt im Osten der Demokratischen Republik Kongo, die an meine Heimat Ruanda grenzt. Die Geschichten dieser beiden Länder sind so tief verwoben, dass eine Erläuterung den Rahmen dieser Kolumne sprengen würde. Kolonisation, mehr als drei Kriege in den letzten zwanzig Jahren, ca. fünf Millionen Tote, sehr wertvolle Mineralien, die Leben umso wertloser erscheinen lassen. Die Grenze zwischen den beiden Ländern ist für mich immer ein Mysterium gewesen.

© Tine Fetz

Wir sind in meiner Kindheit oft an Goma vorbeigefahren, als wir auf der ruandischen Seite Urlaub machten und rüberschauten auf dieses zerrüttete Nachbarland und den Vulkan Nyiragongo, der im Jahr 2002 ein Drittel der Stadt mit Lava bedeckte. In den anderen zwei Dritteln laufe ich nun auf der Lava vom Ausbruch von 1972, während auf den belebten Straßen weiße Jeeps mit NGO-Logos so häufig an mir vorbeifahren wie die gelben Busse in Berlin. Und in der Luft fliegen die Flugzeuge so tief, dass die Schrift, in den meisten Fällen das UN-Logo, auf ihren Bäuchen klar zu erkennen ist.

Jeden Morgen laufe ich an einer riesigen Baustelle, an der Lava-Klötze per Hand klein gemacht werden, um Raum für eine neue Straße zu machen, vorbei.  Ich laufe über den Köpfen von Bauarbeitern auf einer improvisierten Holzbrücke zu einem Kulturzentrum, das vom Vulkanausbruch 2002 verschont blieb. Dort leite ich einen Workshop, bei dem wir innerhalb von drei Wochen eine Webserie über die Stadt produzieren wollen.

In dem Haus, in dem der Workshop stattfindet, schmücken die Köpfe von Angela Davis, Frantz Fanon und Patrice Lumumba die Außenwände. Die Gruppe, die ich betreue, besteht aus Ruander*innen und Kongoles*innen, eine Gruppe, an deren ethnischer Einteilung die Kolonisatoren unserer beiden Länder einen Heiden- bzw. Christenspaß gehabt hätten.

Am Abend gehen wir gemeinsam feiern, ich bin so alt wie die meisten Teilnehmer*innen, was eine Hierarchie genauso unglaubwürdig wie überflüssig macht. Wir finden eine Ecke, in der wir in Ruhe trinken und rauchen können. An den anderen Tischen sitzen sehr hübsche, junge, Schwarze Frauen in kurzen Kleidern neben weißen und hellbraunen Männern und auf den Klos werden Koksstreifen und Bremsstreifen in derselben Unachtsamkeit liegen gelassen.

Und vor dem Club stapeln sich wieder diese weißen Jeeps mit ihren Wohltätigenlogos und den knirschenden Walkie-Talkies. Am Abend laufe ich mit einem der Teilnehmer zum Hotel zurück. Wir laufen entlang des Sees, vorbei an den Häusern, in denen die weißen Jeeps sich schlafen legen. Es gibt sogar eine eigene Tankstation, an der sich die Mitarbeiter*innen des Viertels bedienen, bevor sie morgens mit einem Riesenkater wieder losfahren, um Gutes zu tun.

Die Videos, die wir drehen werden, handeln von den Phänomenen der Stadt. Es geht um die Kunstszene, um korrupte Kirchen, Stadtmythen, Umweltverschmutzung. Wir drehen in den Kirchen, auf dem Kivu-See und auf der Baustelle mit der hölzernen Brücke.

Wir laufen rum wie eine unverwundbare Gruppe, nehmen Motorräder in der Nacht, posieren mit den dicken Kameras für unsere jeweiligen Instagram-Accounts, überreden dickbäuchige Männer, uns in ihren Büros drehen zu lassen, und reden viel über die verschiedenen Weisen, auf die man als Kinder unserer Länder seine Väter verlieren kann.

Die Grenzen verschwimmen.

Nach wenigen Tagen hat der einzige Muslim in der Gruppe, nachdem seine Essensmarke regelmäßig innerhalb der Gruppe verscherbelt wurde, kurzzeitig sein Fasten unterbrochen. Es finden unerwartete Liebesgeschichten und vorzeitige Trennungen statt, während bei turbulenten Dreharbeiten manche fast verhaftet werden.

Nach drei Wochen ist es vorbei und ich packe am Morgen und noch leicht betrunken meine Sachen. Am Abend zuvor habe ich geheult, als wir uns verabschiedet haben. Ich hatte versucht auszudrücken, was diese Reise für mich bedeutet hat, habe aber leider kein einziges Wort rausbekommen. Die Teilnehmer*innen haben mich ausgelacht und wir haben die anschleichende Trauer weggetanzt.

Ich nehme ein Motorrad Richtung Grenze und reihe mich dort angekommen in der Schlange der Menschen ein, die die Demokratische Republik Kongo verlassen. Mein Pass wird mir abgenommen. Nach ein paar kritischen und missbilligenden Blicken wird mein Name in ein riesiges Notizbuch eingetragen, daneben der Beruf, Datum, Geburtsort und der Anlass für die Reise.

Im Hintergrund stempeln die Mitarbeiter*innen im Akkord. Westliche Ausländer*innen werden länger als nötig festgehalten, in einer Schikane, die in ihrer verzweifelten Umkehrung der tatsächlichen Zustände eher komisch wirkt. Mehrmals wird eine weiße NGO-Mitarbeiterin gefragt, was sie denn genau hier mache, und sie antwortet immer wieder mit dem Namen der globalen Organisation, für die sie arbeitet. In wenigen Minuten wird sie freigelassen werden und es wird etwas Lustiges auf Kiswahili über sie gesagt, über das wir alle lachen werden. Auch ich, die nicht alles versteht.

Und dann wird sie einsteigen in das weiße Auto mit dem Keine-Waffen-Schild, das von einem Schwarzen Mann gefahren wird, den sie nur beim Vornamen nennt, und sie wird ihren Kopf schütteln über diese Afrikaner, diese anstandslosen, namenlosen Afrikaner, die sie nicht in Ruhe helfen lassen.