Interview von Juli Zucker

Missy: Musik, Theaterprojekte und Schreibwerkstätten mit Kids: Bist du unentschlossen, Olivia? Wieso auch noch Autorin?
Olivia Wenzel: Bei allen Dingen, die ich so mache, treiben mich dieselben Kräfte an: Ich habe ein Bedürfnis, die Welt zu verarbeiten und zu bewältigen und muss Sachen aus mir rausmanövrieren, um nicht zu platzen. Es hat lange gedauert, bis ich mich als Autorin verstanden habe. Am Anfang war es extrem absurd, den eigenen Namen gedruckt zu lesen und zu wissen: Wow, mich nimmt jemand wahr. Als ich vor paar Jahren einen Theaterpreis bekam, konnte ich das Schreiben als etwas begreifen, das ich offiziell mache und nicht nur für mich. Ich hab generell Lust auf Begegnungen und darauf, sie in etwas zu überführen. Irgendwie treffe ich glücklicherweise vermehrt auf offene Leute, die ihre Geschichten mit mir teilen. Einmal hat z. B. ein Kioskbesitzer im Späti extrem stolz den Monitor zu mir gedreht und mir gezeigt, was er anschaut. Ich dachte Fußball, aber er hat sein Haus in der Türkei überwacht, aus fünf Perspektiven. Beim Schreiben arbeite ich allein, bei allem anderen gern im Kollektiv – ich brauche beides. Mit der Gruppe vorschlag:hammer habe ich z. B. letztes Jahr 14 Frauen über achtzig interviewt. Wir haben ihre Stimmen zur Biografie einer 84-Jährigen zusammengeschraubt, das Stück heißt „Die Erfindung der Getraud Stock“ und war eine wichtige, schöne Arbeit für mich.

Autorin Olivia Wenzel. © Gesine Hohmann

Deine Texte spielen neben und in Snackautomaten, Hotels in Manhattan oder Flugzeugen, inhaltlich geht’s um den NSU-Prozess und US-amerikanische Präsidentschaftswahlen, verwoben mit scheinbar persönlichen Stimmen. Vielfältiges Programm also.
Worüber ich in den letzten Jahren geschrieben habe, ist ziemlich verschieden – Zwänge im Kapitalismus, Überforderung, Überarbeitung, Unterforderung, Vereinsamung, Unsterblichkeit, ein Hamburger Stadtviertel, eine eigenartige Glücksagentur, die mit Stasi-Methoden arbeitet, ein Kind, das in einer Abrissbirne pulsiert … Dann wieder Heimat, Identität und ganz generell das Leben und Sterben in der Welt. Ich sehe mich nicht als aktivistische Person und habe mich lange geweigert, als politische Autorin gelabelt zu werden. Trotzdem gibt es immer wieder Situationen, in denen ich gegen Rassismus oder Sexismus vorgehen will. Z. B. dann, wenn Sprache Leute verletzt. Aber ich habe keine Lust, dass irgendwo steht, Rassismus sei mein Thema, mein Label oder meine Aufgabe. Sobald es ein Stempel wird, von dem man das Gefühl hat, ihn vertreten zu müssen, wird es widersprüchlich: Eklig, unter diesem Stempel gelesen zu werden, aber andererseits gut, dass es mittlerweile überhaupt so einen Stempel gibt und dann in absehbarer Zeit hoffentlich nicht mehr. Wenn ich mich auf ein Thema festlege, grenze ich mich ein und merke gleichzeitig, dass ich damit auch Sichtbarkeit schaffen kann.

In diesem Jahr bist du beim Literaturkurs des Ingeborg-Bachmann-Preises dabei. Auf euren Fotos seht ihr alle ziemlich seriös aus. Muss man ernst sein, um beim deutschsprachigen Literaturbetrieb mitzumachen?
Vielleicht hat die Ernsthaftigkeit im Literaturbetrieb damit zu tun, dass Autor*innen einen hohen Anspruch an den eigenen Intellekt und an den anderer stellen, dass sie sich um kluge, neue Perspektiven bemühen und gezwungen sind, sie öffentlich zu vertreten. Da wird man halt ein bisschen komisch und unlocker. Oder es ist andersrum: Dieser meistens eher einsame Beruf zieht vielleicht überwiegend Leute an, die sich in Öffentlichkeiten unentspannt bewegen. Aber manchmal frage ich mich schon: Warum so krass steif, warum so wenig Spaß? Es gibt da so eine Heiligkeit um die vermeintliche Hochkultur … Dass der deutsche Literaturbetrieb ziemlich weiß ist, ist mir aufgefallen, als der letzte Bachmann-Preis an Sharon Dodua Otoo ging. Weil sie als erste Schwarze Frau so einen Preis gewinnt. Das hat null Selbstverständlichkeit bisher. Der Theaterbetrieb ist da weiter: Solche Diskurse sind z. B. im Maxim-Gorki-Theater oder Ballhaus Naunynstraße schon angekommen; dort werden Geschichten erzählt, die nicht ausschließlich in Deutschland wurzeln.

Du spielst manchmal mit den Gesetzen des Betriebs und machst Jokes, wenn du auf der Bühne deine Stücke liest. Ist das nicht ein absolutes No-Go?
Ich habe oft Spaß beim Schreiben und halte mich für eine lustige Person, bin aber häufig auch melancholisch unterwegs, traurig oder wütend. Ich hab kein Problem damit, intensive Gefühle zu zeigen, und das manchmal relativ ungefiltert. Vielleicht hat das was mit Humor zu tun, weil es sich situativ ergibt, weil ich mich nicht allzu ernst nehme. Keine Ahnung, wieso man immer so ernst sein soll oder was der Mehrwert davon ist. Es ist doch schön, wenn Leute mit mir lachen. Natürlich geht’s bei Albernheit oder Ironie oder skurrilen Fantasien auch darum, Sachen zu bewältigen; gerade in Zeiten, in denen das Politische allgegenwärtig und bedrückend ist. Ich weiß meistens nicht, was ich tun kann, außer das schreibend zu bearbeiten oder darüber zu lachen. Manchmal überrascht es mich aber auch selbst. Letztens habe ich mit dem grandiosen Schauspieler Martin Schnippa einen Text von mir auf der Bühne gelesen. Am Vortag habe ich beim Üben gesagt: Fuck, ich baller da morgen die Leute mit meinen Depri-Texten zu. Beim Vorlesen waren dann plötzlich Stellen witzig, von denen ich es nicht gedacht hätte. Gerade plane ich ein Stand-up-Comedy bzw. Performanceprojekt mit zwei Freunden, bei dem wir unser Leben auf perverse und humorvolle Art ausschlachten wollen. Auch da geht’s vordergründig um uns und dass wir unsere eigenen Geschichten befragen, was wann wie scheiße war. Aber gleichzeitig schauen wir nach einem größeren Zusammenhang und prüfen, wie die Scheiße mit unserer Gesellschaft verlinkt ist.

Du warst letzten November in den USA. Was hat der amerikanische Literaturbetrieb, was dem deutschsprachigen fehlt?
Im November hat Ta-Nehisi Coates (US-amerikanischer Journalist und Buchautor, Anm. d. Red.) in New York in der französischen Botschaft ein Forum kuratiert. Ich bin da zufällig reingeraten, in einen Raum voller Schwarzer Autor*innen und Künstler*innen. Das war sehr beeindruckend, ich bin dort Leuten begegnet, die sich mit dieser typischen Ami-Entertainment-Leichtigkeit ausgetauscht haben. Super eloquente, positive, smarte Leute mit Witz und Charme. Daraufhin hab ich gezielt Bücher gelesen, in denen Autor*innen Texte ganz nah an sich selbst erzählen, so wie Coates es auch macht. Was bedeutet das, wenn man sich selbst sichtbar als Material benutzt? Klar erzählen die Texte von schmerzvollen Erfahrungen. Aber Geschichten erzählt man doch, weil man was mitteilen will, das einem wichtig ist. Also mitteilen im Sinne von teilen, meine ich. Als ich nach meiner Reise wieder in Deutschland ankam, hab ich zum ersten Mal gedacht: Krass, ich bin hier wirklich die einzige Schwarze Theaterautorin, die ich kenne. Zu sehen, wie die Schwarze Kulturelite in den USA arbeitet und sich austauscht, hat mir gezeigt, was hier fehlt.

Olivia Wenzel ist Sängerin bei OTiS FOULiE, schreibt Prosa und fürs Theater und arbeitet mit Kollektiven wie machina eX, vorschlag:hammer oder cobratheater.cobra auf und hinter der Bühne.

Wenn man ewig an einem Text brütet, der dann an eine Öffentlichkeit getragen wird und ein Publikum kennenlernt, kann man da noch cool bleiben oder setzt man sich der ständigen Furcht vor Bewertung aus?
Wenn man sein Ding macht, findet das irgendwann Gehör. Davon bin ich überzeugt. Und dazu gehört dann eben auch, dass man bewertet wird. Für meinen ersten Auftritt hab ich mir eine Brille mit Fensterglas gekauft; sozusagen als Schutz zwischen mir als Autorin und der Öffentlichkeit. Die Brille brauche ich inzwischen nicht mehr. Ich hab mich an den Prozess gewöhnt, meine Texte in die Hände vieler Leute zu geben: Regisseur*innen, Schauspieler*innen und so weiter. Manchmal hat das am Ende nur noch dreißig Prozent  mit meinen Ideen zu tun, aber das mag ich. Außer wenn das Endprodukt oder die Inszenierung dem Text nicht guttun. Wenn du viel von dir preisgibst, musst du dir ein dickes Fell zulegen. Einmal fing mich ein Regisseur Arme rudernd im Hof ab, um mich davon abzuhalten, in die Generalprobe zu kommen. Alle Schauspieler*innen hätten ein Problem mit meinem Feedback und mit dem Text sowieso und darum jetzt auch mit mir – falls ich den Raum betreten würde, würden sie nicht spielen. So was ist hart. Aber mittlerweile kann ich das gut aushalten, dass ich der Öffentlichkeit auch Reibungsfläche biete. Alles andere wäre absurd. Wenn immer alle krass lieb wären, müsste man ja verrückt werden.