Von Katja Peglow

„Am I dead? Or is this one of those dreams? Those horrible dreams that seem like they last forever?“ – „Bin ich tot? Oder ist das einer dieser schrecklichen Träume, die nie zu Ende gehen scheinen?“ So beginnt das erste musikalische Lebenszeichen von Kesha Rose Sebert nach ihrem aufsehenerregenden Prozess gegen den erfolgreichen US-Produzenten Dr. Luke (bürgerlich Łukasz Sebastian Gottwald).

© Olivia Bee

2014 warf die Popsängerin ihrem ehemaligen Mentor vor Gericht seelischen Missbrauch und sexuelle Übergriffe vor. Seitdem kämpft sie darum, aus ihrem Vertrag mit Gottwald entlassen zu werden. Die Klage wurde letztes Jahr zwar abgewiesen, löste aber einen medialen Aufschrei aus. Schließlich ist der Fall „Kesha vs. Dr. Luke“ ein Lehrstück darüber, wie unerbittlich die Popindustrie noch immer mit ihrem meist weiblichen Personal umgeht (und gerade so, als hätte es Phil Spector nie gegeben).

Jetzt kehrt Kesha nach fünf Jahren Zwangspause und ohne Dollarzeichen im Namen mit einem Schlag und gleich vier kurz hintereinander veröffentlichten Songs wieder ins Rampenlicht zurück: Im Video zur hochemotionalen ersten Single „Praying“ ihres lang erwarteten dritten Studioalbums knöpft sie sich ihren mutmaßlichen Peiniger vor und bittet für ihn um Frieden. Die von Ryan Lewis produzierte Powerballade ist der Auftakt von Keshas spektakulärem Comeback, das die US-Amerikanerin von einer bis dato unbekannten und deutlich ernsteren, selbstreflektierenden Seite zeigt – war doch die Sängerin bislang vor allem für harmlose Wegwerfpopsongs bekannt.

Gleich die erste Single „Tik Tok“ aus dem Debütalbum „Animal“ (2010) macht die damals 22-jährige Newcomerin über Nacht zum Star und landet in elf Ländern auf Platz eins der Charts. Zu Unrecht beherrschte der Topseller eine Dekade lang Keshas Image als singender Gaga-Klon ohne künstlerische Ambitionen. Dabei hatte Kesha schon damals mehr drauf, als man ihr zugestehen wollte. Mit den Flamings Lips nimmt sie lange vor Miley Cyrus ein Album auf, dessen Release jedoch von Dr. Luke verhindert wird. Nebenbei schreibt die Künstlerin noch Songs für Britney Spears, Ariana Grande und Alice Cooper.

Ihre zugunsten einer Popkarriere zurückgesteckten Musikvorlieben (Kesha ist in der Country-Hochburg Nashville aufgewachsen, ihre Mutter war u. a. als Songwriterin für Dolly Parton tätig) kann man jetzt auf ihrem dritten Studioalbum „Rainbow“ nachhören, das ganz ohne Autotune auskommt. Darauf kehrt die inzwischen 30-jährige Kalifornierin zu den Wurzeln nordamerikanischer Popmusik zurück und emanzipiert sich von ihrem alten Party-Rap-Sound: Das mit den famosen Dap-Kings eingespielte „Woman“ ist toller Selbstermächtigungspop im Retrosoul-Gewand. „Hunt You Down“ rechnet mit flotten Banjoklängen mit der Vergangenheit ab, und der von Ben Folds produzierte nachdenkliche Titelsong schlägt unerwartet sanfte Singer/Songwriter-Töne an.

Kesha „Rainbow“
(Kemosabe/RCA/Sony), VÖ: 11.08.

Dass sich Kesha auch mit gestandenen Musiklegenden messen kann, beweist gegen Ende das einst von ihrer Mutter mitgeschriebene Dolly-Parton-Duett „Old Flames Can’t Hold A Candle To You“, das mit der Country-Ikone herself in einer berührenden Version neu eingesungen wurde. „Rainbow“ ist ein hoffnungsfrohes Album nach der Krise geworden, auf dem Kesha die Last der Vergangenheit abschüttelt, und ein starkes Comeback einer bisher unterschätzten Künstlerin. Willkommen zurück!