Jedes Mal, wenn ich irgendwo im www das Word „Selbstmord“ schreibe, werde ich darauf hingewiesen, dass aus politischen Gründen entweder „Suizid“ oder „Selbsttötung“ gewählt werden sollten. Ich verstehe die damit einhergehenden Erklärungen, dass mit „SelbstMORD“ das Beenden des eigenen Lebens mit dem gewaltvollen Töten einer anderen Person gleichgesetzt wird. Ich weiß, dass mit dieser Formulierung die Kriminalisierung und Pathologisierung von Suizid verbunden ist. Trotzdem ist das Verwenden des Wortes „Selbstmord“ in meinem Fall keine Unachtsamkeit oder pure Ignoranz der Debatten.

Auch wenn der Suizid ein selbstbestimmter Akt ist, trägt die Gesellschaft häufig Mitschuld © Tine Fetz

Ich finde es wichtig, Suizid zu entkriminalisieren und als legitime Entscheidung, als selbstbestimmte Handlung und als logische Konsequenz von „my body my choice“ zu verhandeln. Suizid hat, und wenn es nur der Gedanke daran ist, als Form von absoluter Selbstbestimmung über mich selbst und mein Leben oft einen ermächtigenden Charakter. Aber so wichtig ich diese Debatten auch finde, fehlt mir die andere Hälfte der Systemkritik bei dieser Betrachtung.

Als Kind einer jüdischen Familie, in der sich ein Großteil meiner Angehörigen das Leben genommen hat, gibt es Zusammenhänge, in denen ich mich weigere, von Selbsttötung oder Suizid zu sprechen. Viele Jüd*innen haben sich während und nach der Shoah das Leben genommen. Hier von Selbsttötung oder Suizid zu sprechen, verschleiert den Umstand, dass es sich bei diesen Toten um Ermordete handelt. Es ist Mord und, wie ich finde, eine der schlimmsten Formen. Es ist ein Mord, bei dem die Ermordeten gezwungen wurden, ihn an sich selbst durchzuführen. In diesen Fällen von Selbsttötung oder Suizid zu sprechen, verharmlost die Gewalt und die gesellschaftlichen Umstände, die in der letzten bzw. ersten Konsequenz diese Menschen umgebracht haben, und zieht die Verantwortlichen aus der Verantwortung.

Genau aus diesem Grunde spreche ich beispielsweise auch von Selbstmord, wenn ich auf die Verluste innerhalb queerer Communitys hinweise. Es ist kein Geheimnis, dass die Suizidrate innerhalb marginalisierter Gemeinschaften besonders hoch ist. Und wir wissen auch alle, dass dies kein Zufall ist. Ich finde es wichtig, auch sprachlich festzuhalten, dass diese hohe Rate durch (gesellschaftliche) Gewalt entsteht. Es ist Mord! Allerdings nicht von den Ausführenden an sich selbst, sondern von der Gesellschaft/Täter*innen.

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

Dabei finde ich es wichtig zu betonen, dass die Folge dieser Sichtweise nicht sein darf, dass wir plötzlich das Individuum auf Biegen und Brechen viktimisieren. Es bleibt eine selbstbestimmte Handlung und ich würde nie sagen, xy ist tot, weil die Gesellschaft xy getötet hat. Oder nur, wenn ich die Person und die Umstände sehr genau kenne.

Es geht mir nicht darum, paternalistisch Lebensentscheidungen umzuschreiben, Menschen über deren Kopf hinweg zu Opfern zu erklären und auf diese Weise die Selbstbestimmung, Autonomie und eventuell das Empowerment dahinter abzusprechen. Dennoch ist es wichtig, im Blick zu behalten, dass es oft mit (gesellschaftlichen) Repressionen zu tun hat, dass einige von uns an einem bestimmten Punkt diese Form wählen, um selbstbestimmt zu sein oder zu bleiben.

Wenn du selbst über Suizid nachdenkst oder dich um eine dir nahestehende Person sorgst, kannst du dich an die Beratung der Telefonseelsorge unter 0800 1110111 oder im Chat wenden. Beratung für Betroffene von Diskriminierung gibt es bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes oder beim unabhängigem Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin.

Von Selbsttötung zu sprechen, wenn sich viele Queers, People of Color und Jüd*innen das Leben nehmen, individualisiert dieses Phänomen und verschleiert, dass es Ursachen und eine gesellschaftliche Verantwortung dafür gibt. Diese Tode entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern als Folge von Diskriminierung und Gewalt. Es ist nicht widerspruchsfrei und eine Gratwanderung, zum einen den Blick auf die Autonomie des toten Menschen nicht zu verlieren, und gleichzeitig auf den Außen-/Fremdeinfluss hinzuweisen. Ich habe mich irgendwann dazu entschlossen, von Suizid zu sprechen, wenn ich von Einzelpersonen rede (außer bei meiner eigenen Familie), und von Selbstmord, wenn ich mich auf Lebensrealitäten marginalisierter Perspektiven beziehe. Denn auch wenn es gilt, Suizid als Individualentscheidung zu entkriminalisieren, ist es nötig, Selbstmord als Folge eines Gewaltsystems zu skandalisieren. Und ich kann mit Klarheit sagen, sollte ich mir irgendwann das Leben nehmen, wäre es mit Sicherheit selbstbewusst und selbstbestimmt. Aber die Verantwortung für diese Entscheidung hätte trotzdem diese beschissene antisemitische, heteronormative, körpershamende und ableistische Gesellschaft (mit-) zu tragen. Auf meinem Grabstein sollte stehen: „Dieser Suizid war ein SelbstMORD!“