Interview: Sonja Eismann

Vor 30 Jahren erschien „Rasse, Klasse, Nation“, der Klassiker der Rassismusthorie von Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein. Heute beginnt im Berliner Haus der Kulturen der Welt ein dreitägiges Symposium, das sich unter dem Titel „Gefährliche Konjunkturen“ der Aktualität des Buches widmet. Wir haben dazu mit einer der beiden Kuratorinnen des Programms, Manuela Bojadžijev, gesprochen.

ohne Titel, Videostill, 2018 © Michael Busch

Vor bald 30 Jahren wurde „Rasse, Klasse, Nation“ nach den rassistischen Morden im wiedervereinigten Deutschland stark in der hiesigen Linken rezipiert. Kann man damit heute noch die Spezifik des nach wie vor omnipräsenten oder sogar noch dominanter gewordenen Rassismus analysieren?
Es lässt sich schwer ermessen, ob Rassismus „noch dominanter“ geworden ist. Übrigens auch, weil Rassismus in Deutschland so gut wie gar nicht untersucht wird. Bis vor Kurzem war es ein Wort, das stets umgangen wurde. Der Begriff und seine Bedeutung sind darüber hinaus selbst umkämpft.

Was kann das Buch für eine aktuelle Analyse von Rassismus leisten?
Es beruht bekanntlich auf einer Seminarreihe zwischen 1985 und 1987 an der Maison des Sciences de l’Homme in Paris, die die beiden Autoren organisiert hatten und an der sehr viele Leute partizipierten. Die Welt war damals noch in einer Blockkonstellation gehalten, deren Ende sich aus dem Buch vielleicht sogar herauslesen lässt. Auf jeden Fall nimmt es sich mit Rasse, Klasse und Nation drei universelle Kategorien heraus und arbeitet deren inhärente Ambiguität, d. h. ihre relationale Existenz in der Geschichte, heraus. Statt also von der historischen Existenz dieser Kategorien auszugehen, zeichnen sie ihre Entwicklung nach und erlauben auf diese Weise ja für heute auch eins: das historische Gewordensein daraufhin zu befragen, wie wertvoll das Buch für die Analyse der Gegenwart ist.

Welche Aspekte des Buches waren für Sie bei der Planung des Symposiums leitend?
Die Ausgangsfrage, die wir uns gestellt haben, als wir die Arbeit daran aufnahmen, war nicht, ob das Buch heute noch in allen seinen Thesen der Gegenwart standhält oder nicht. Vielmehr bestand das Projekt darin, zu überlegen, wie es aktualisiert werden könnte. Methodisch haben wir dafür vier Dimensionen vorgeschaltet:
Erstens haben wir untersucht, wie genau das in neun Sprachen übersetzte Buch eigentlich an unterschiedlichen Orten dieser Welt rezipiert wurde. 24 Beiträge dazu sind in dem Buch vertreten, das zum Symposium erscheint. Die Diagnose für Deutschland lautet übrigens: Es hätte ruhig mehr sein dürfen. Zugleich zeigt sich, auch anhand von aktuellen Neuauflagen in verschiedenen Ländern, etwa der Türkei und Japan, aber auch in Deutschland, dass es offenbar zu einer Relektüre angesichts der aktuellen Konjunktur unter sehr unterschiedlichen Bedingungen kommt.
Zweitens sind in sechs Orten der Welt, in Ankara, Belgrad, Berlin, Buenos Aires, Kolkata und Kapstadt, Workshops ausgerichtet worden, die diskutiert haben, welche aktuelle Dimension dieses Buch hat. Diese ersten beiden Unternehmungen gingen, der Prämisse von „travelling theories“ folgend, davon aus, dass die sehr unterschiedlichen Rezeptionen und Aktualisierungen wiederum zwei Dimensionen des Buches weiterführen: seinen dialogischen Charakter und seine Fallstudien aufzunehmen und umzusetzen.
Drittens gibt es ein Video, für das ich mich mit den beiden Autoren in Paris an der Maison des Sciences de l’Homme getroffen habe und worin sie selbst auf das Buch und seine Thesen reflektieren.
Viertens findet nun dieses Symposium statt. Strikt dialogisch in der Anlage soll es keine einzelnen Positionen zusammentragen, wie das oftmals geschieht. Wir haben stattdessen Leute eingeladen, die manchmal gar nicht unbedingt nah dran sind an dem Buch, aber etwas durch ihre Arbeit zu der Rekonzeptualisierung seiner Grundkategorien beitragen können, da wir davon ausgehen, dass diese enormen Transformationen unterliegen. Beispielhaft könnte ich Veränderungen durch digitale Kulturen oder die Reproduktionsmedizin nennen.
Das ist jetzt keine Antwort auf die Frage nach einem aktuellen Verständnis von Rassismus, sondern stellt vielmehr eine herzliche Einladung zum Symposium dar, das die Teilnahme des Publikums durch das dialogisch angelegte Konzept befördern soll.

Intersektionale Ansätze versuchen inzwischen, Rassismus, Klassismus und Antifeminismus zusammenzudenken. Inwiefern können feministische Ansätze heute noch etwas von „Rasse, Klasse, Nation“ und Balibars Begriff der „fiktiven Ethnizität“ als einer ideologischen Infrastruktur lernen?
Der Begriff der „fiktiven Ethnizität“ von Étienne Balibar spielt auf das Problem der Konstitution eines Volkes – oder einer „Nation“ – an, als Problem interner Hegemonie, die allerdings institutionell immer aufs Neue umgesetzt wird, also auch aktualisiert werden kann. Was mal eine fiktive Ethnizität gewesen ist, muss es heute nicht mehr sein – darin kann es durchaus zu Erneuerungen kommen, ohne eine grundlegende Unterbrechung zu bedeuten. Man denke an „Neue Deutsche“ – eine politische Operation an den Grenzen der Ethnifizierung.

Die AfD konterte in ihrer Wahlkampfkampagne darauf defensiv mit „Neue Deutsche machen wir selbst“. Sie versuchte damit sicherzustellen, dass die „fiktive Ethnizität der Deutschen“ weiterhin eine imaginäre Einheit der Gemeinschaft artikuliert. Eine, der Merkmale zugeschrieben werden, die mal sprachliche, mal kulturelle, mal rassische, mal religiöse – meist jedoch eine Mischung all dieser – sind. Imaginär bzw. fiktiv übrigens nicht im Sinne von „illusionär“, d. h. ohne tatsächliche historische Effekte. Zu diesen gehören eine Reihe von Mythen über die Vergangenheit dieser vorgestellten identitären Gemeinschaft und ihrer Zukunft.

Die Nation ist zu abstrakt. Es gibt sie ja in vielfacher Erscheinung weltweit und noch dazu konkurrieren die Nationalismen untereinander. Sie brauchen deshalb einen korrespondierenden Partner: die Ethnizität. Sie erklärt den Einzelnen, wo sie hingehören, und macht diese Zugehörigkeit „natürlich“.

Wie aber reproduziert sich diese Gemeinschaft?
Rassismus kommt ohne Sexismus und Homophobie nicht aus. Denken wir nur an die Rolle, die die Vorstellung von „Blut“ hier historisch gespielt hat und Begriffe wie Blutsverwandtschaft hervorgebracht hat. So ist in unseren Gesellschaften institutionell klar geregelt, wer wen heiraten darf: Handelt es sich um eine gleichgeschlechtliche Verbindung? Welche Staatsbürgerschaften haben die Personen? Wie lange halten sie sich in Deutschland mit welchem sozialen und ausländerrechtlichen Status auf? Sprechen sie Deutsch?

Nicht selten spielen religiöse Fragen eine wichtige Rolle, es kommt zum Konfessionswechsel vor dem Ja-Wort etc. Aber natürlich wird auch sozialer Status so vererbt. Wen wir heiraten, regelt ganz nebenbei, wem wir was vererben dürfen. Wenn man daran denkt, dass Reichtum in Deutschland insbesondere durch Vererbung reproduziert wird, verstehen wir eine weitere Bedeutung dieses Nexus. Die Sicherung der Genealogie und des Eigentums gehen Hand in Hand.

Unter Bedingungen der heutigen Reproduktionsmedizin kommen diese Sachverhalte aber in Bewegung: Einerseits lässt sich heute ja „beweisen“, wo Verwandtschaftsverhältnisse vorliegen und wo nicht. Andererseits werden die Rollen derjenigen, die diese begründen, komplizierter – denken wir an anonyme Samenspenden oder Leihmütter.

Transnationale Haushaltsstrukturen sind ein anderes wichtiges Feld. Das Symposium beschäftigt sich mit genau diesen Entwicklungen und richtet sie als Fragen an unser aktuelles Verständnis von Rassismus, Nationalismus und Klassenverhältnissen, aber eben auch von Sexismus und Geschlechterverhältnissen.

Was wären in diesem Zusammenhang z. B. heutige Antworten auf femorassistische Konzepte?
Was mit dem Feminismus auf dem Spiel steht oder zum Einsatz kommt, ist nicht verstanden worden, wenn man glaubt, aus feministischen Motiven rassistisch argumentieren zu wollen. Man ignoriert schlicht die Eingaben, die im Feminismus etwa von Migrantinnen und schwarzen Frauen gemacht wurden. Ebenso wie die vielen internationalistischen Traditionen, die es hier gibt, und wie sie den Feminismus verändert und geprägt haben. Stattdessen gemeinsame Sache mit hetzerischer Rede zu machen, wie bringt das die Verbesserung des Geschlechterverhältisse voran?

Balibar und Wallerstein analysierten einen nicht biologistischen, sondern kulturalistischen, differentialistischen Rassismus, und sprachen von einem Kulturrassismus oder Rassismus ohne Rassen. Kann man den gegenwärtigen Rassismus, v. a. den antimuslimischen Rassismus seit 9/11 und seit dem „Sommer der Migration 2015“, damit fassen?
Ich weiß nicht, ob es richtig ist, das so klar in historische Abfolge zu bringen. Rassismus spricht auch weiterhin meist sowohl die Sprache der Kultur wie auch die Sprache der Biologie – kulturelle Erklärungen werden naturalisiert, biologische Argumentationen erhalten kulturelle Interpretationen. Das ist auch die Analyse des Buches. Man denke allein an die Apartheid in Südafrika als Beispiel.

Was sich verändert hat, ist die Behauptung einer Faktizität und Natur, mit der eine Konstruktion wie Rasse „hinterlegt“ werden kann. Es ist heute weniger plausibel und sogar weniger verbreitet zu behaupten, es gäbe Rassen. Kultur bildet aber einen unsichereren Grund als biologische Erklärungen, die ja, und ohne dass man das noch mal ausdrücklich sagen muss, für natürlich gehalten werden. Das gibt weniger Sicherheit darin, rassistisch auftreten zu können, vervielfältigt zugleich aber die Optionen und bringt Variationen in die Erscheinungsformen von Rassismen. So viel zur historischen Linie, die Sie angesprochen haben.

Die Ihrer Meinung nach jedoch nicht ausreichend ist?
Ich würde ihr eine räumliche hinzufügen wollen, die uns auch bei dem Symposium wichtig ist. Welche Erscheinungsformen, welches Auftreten, welche Praktiken, welche Diskurse sind mit Rassismen an unterschiedlichen Orten der Welt verbunden? Welche Resonanzen und Widersprüche können wir wahrnehmen? Von welchen Haltungen gegen Rassismen können wir lernen?

Manuela Bojadžijev ist Professorin für Globalisierte Kulturen an der Leuphana Universität Lüneburg und Beauftragte für internationale Zusammenarbeit am Institut für empirische Migrations- und Integrationsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin. Davor lehrte sie an der Freien Universität Berlin, in London an der City University und am Goldsmiths sowie an der Goethe-Universität Frankfurt. 2008 erschien ihre Dissertation „Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration“. Seitdem publizierte sie zahlreiche Artikel zur Rassismus- und Migrationsforschung, zur Geschichte der europäischen Migration und zu Postcolonial Studies.

Der Brexit in Großbritannien und die AfD hierzulande sind zurzeit einigermaßen erfolgreich darin, die soziale Demografie mit der Frage nach Geflüchteten zu verknüpfen und Klassenkonflikte rassistisch zu formulieren. Inwieweit versuchen das Symposium bzw. die von Ihnen eingeladenen Vortragenden, bezüglich dieser Problematik Strategien zu formulieren?
Die Haltung, die zu Migration eingenommen wird, ist inzwischen zu einem Seismografen dafür geworden, wie demokratisch eine Gesellschaft ist und sein will. Das ist so, weil die Bereitschaft, jenen Rechte einzuräumen, die nicht von vornherein Teil der Gemeinschaft sind, die Probe aufs Exempel bedeutet. Wenn wir die anderen ausschließen oder sie nur graduell einschließen, haben wir bereits bewiesen, dass wir es mit den Rechten nicht so ernst nehmen. Das macht sich nicht nur gegenüber den von außen Kommenden bemerkbar, sondern auch nach innen. Es ist immer erschreckend zu sehen, wie viel Verständnis rassistischen Argumentationen entgegengebracht wird. Aber es war besonders erschreckend zu beobachten, wie sich dies hierzulande in den letzten Jahren verstärkte.

Ich gebe ein Beispiel: Armut in Deutschland ist mehrheitlich migrantisch. Glauben Sie, es hilft, diese Statistik hervorzuholen, wenn behauptet wird, „die Deutschen“ seien von den Migrationsbewegungen überfordert? Ich habe nach 2015 viele Leute erlebt, deren Arbeit gerade darin besteht, solche Statistiken zu lesen und sie in einer kleineren oder größeren Öffentlichkeit zu verbreiten. Es ist eine einfache Übung. Zwar genügt sie nicht, aber dass sich auch so wenige darum scheren, sondern stattdessen immer wieder die Vorstellung einer fiktiven Ethnizität einer deutschen Gemeinschaft bedienen, die allgemein durch die Migration geschwächt würde, das, finde ich, sollte jetzt mal ein Ende haben. Es gibt wahrhaft wichtigere Dinge zu tun, als das Märchen von den Migrant*innen und Flüchtenden zu verbreiten, die alles zerstören, was vorher so prima lief. Nichts anderes suggeriert doch die rassistische Rede als Drohung.