Von Caren Miesenberger

Am 08. März 2018, dem internationalen Frauenkampftag, regnete es im tropischen Rio de Janeiro in Strömen. Vergangenes Jahr trugen mehr als Zehntausende ihre Wut beim feministischen Protest auf die Straße. In diesem Jahr kamen nur knapp halb so viele Demonstrant*innen, was sicherlich auch an dem Wetter lag. Eine von Fünftausenden war die Lokalpolitikerin Marielle Franco: Mit einem blauen Regenschirm schützte die in Rio de Janeiro geboren und aufgewachsene Feministin ihren blonden Afro vor dem Unwetter und verteilte fleißig Küsse und Umarmungen an ihre Mitstreiter*innen, so auch an mich. Charismatisch und voller Kraft trotzte sie dem Regen, um während der Demonstration für ihre Politik einzustehen. Fünf Tage später ist Marielle Franco tot.

Franco bei der Demonstration am internationalen Frauen*kampftag 2018 in Rio de Janeiro. © Pérola Quesada

Franco wurde 1979 im Favelakomplex Maré geboren, wo sie auch aufwuchs. Mit 19 Jahren kam ihre Tochter Luyara zur Welt. Ihr Kind zog sie ohne die Unterstützung des Vaters gemeinsam mit ihrer Mutter auf. 2005 starb ein Freund Francos, als sich Polizei und Drogenbanden in ihrer Heimatfavela Maré in einem Schusswechsel bekämpften. Infolge dessen begann sie, sich gegen Waffengewalt zu engagieren. Franco konnte mithilfe eines Stipendiums an der privaten Eliteuniversität PUC in Rio de Janeiro Sozialwissenschaften studieren. Anschließend machte sie einen Master in Verwaltungswissenschaften und schloss ihr Studium mit einer Arbeit über Polizeieinsätze in Favelas ab. 2016 wurde sie die fünftmeistgewählte Stadträtin der zweitgrößten Stadt Brasiliens. Am Tag ihres Todes war sie in ihrem ersten Mandat und lebte seit Beginn ihrer Tätigkeit als Berufspolitikerin Anfang 2016 offen in einer Beziehung mit einer Frau, der Architektin Mônica Benício.

Vergangenen Mittwoch fuhr sie nach einer Veranstaltung über das Empowerment Schwarzer Frauen im Zentrum Rio de Janeiros nach Hause, als ihr weißer Chevrolet von einem anderen Wagen abgedrängt wurde. In dem anderen Auto waren bewaffnete Personen. Sie wurde mit mindestens vier Schüssen in den Kopf getroffen, ihren Fahrer Anderson Gomes, der ebenfalls verstarb, trafen fünf Schüsse. Ihre Pressesprecherin überlebte als einzige Zeugin. Das Motiv für den Mord ist noch unklar, vor allem, da nichts aus dem Auto mitgenommen wurde, wie es sonst bei Überfällen geschieht. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass es sich um einen Mordanschlag handeln könnte – ein Vorfall, der an die Militärdiktatur Brasiliens erinnert, während derer unliebsamen politischen Gegner*innen systematisch das Leben genommen wurde.

Dríade Aguiar, Vollzeitaktivistin beim linken Medium Mídia NINJA, ist bestürzt über den Tod ihrer Freundin. Die beiden Schwarzen Feministinnen kannten sich gut. Sie verband ein jahrelanger, gemeinsamer Kampf. „Für mich war es ohne Zweifel ein Attentat. Es gibt derzeit keine anderen Indizien“, sagt sie gegenüber Missy. Für Aguiar ist ihr Tod nicht nur im Zusammenhang mit der Militärinvention zu sehen, sondern auch mit Francos Person: „Marielle Franco war Schwarz, Favelada und liebte Frauen. Dies macht es wahrscheinlicher, dass sie stirbt. Andere Aktivisten, männlich und weiß, haben die gleichen Kritiken geübt und sind am Leben. Kritisch zu sein macht angreifbar, aber nur für manche Menschen ist es gänzlich unzulässig, sich kritisch zu äußern. Und wie es heißt: „Eine Schwarze darf so etwas nicht sagen, eine Schwarze darf uns nicht denunzieren“, so Aguiar weiter. 

Am Tag nach Francos Tod, eine Woche nach dem internationalen Frauen*kampftag, demonstrieren Zehntausende in Rio de Janeiro und anderen brasilianischen Städten wie Salvador da Bahia, wo derzeit das Weltsozialforum stattfindet. Sie gedenken Marielle Franco und Anderson Gomes und fordern die Aufklärung ihres Todes. Internationale Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch verurteilen den Anschlag. Auch Aguiar trug ihre Trauer auf die Straßen Rio de Janeiros: „Marielle repräsentierte die Kämpfe verschiedener Personen, verschiedener Gruppen. Sie konnte phänomenal argumentieren und besaß die große Fähigkeit, sich in die Position aller hineinzuversetzen und für alle zu kämpfen. Marielle gab all den anonymen, toten Schwarzen in den Favelas eine Stimme. Als sie umgebracht wurde, sollte diese Stimme getötet werden. Aber jetzt sind wir Millionen Marielles“, erklärt sie gegenüber Missy auf die Frage, weshalb der Tod der Politikerin so viele bewegt.

Die 38-jährige Franco galt als Stimme der Favelas, für die sie sich in ihrer gesamten politischen Laufbahn einsetzte. Ende Februar wurde sie Vorsitzende einer parlamentarischen Kommission, die die Militärinvention in Rio de Janeiro überwachen sollte – und hatte insbesondere ein Auge auf Menschenrechtsverletzungen. Kurz zuvor wurde die Zuständigkeit für öffentliche Sicherheit in Rio de Janeiro an das Militär übergeben. Franco sprach sich vehement gegen Polizeigewalt aus, die vor allem Schwarze aus den Peripherien trifft. Im Jahr 2017 starben in Rio de Janeiro 18 Menschen pro Tag durch Waffengewalt. Insbesondere Schwarze Menschen aus den Peripherien werden Opfer der tödlichen Angriffe. Mehr als die Hälfte der 200 Millionen Einwohner*innen Brasiliens sind Schwarz, gleichzeitig sind zwei Drittel aller Mordopfer Schwarze Personen. Schwarze Frauen sind zudem doppelt so häufig von Femizid betroffen wie weiße Frauen.

Neben Sicherheitsfragen setzte sich Franco auch für den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, die Rechte lesbischer Frauen und gegen Rassismus ein. Intersektionale, feministische Themen waren nicht nur ihre Herzensanliegen – als queere, Schwarze Favelada verkörperte sie diese.

Eine ihrer ersten Amtshandlungen zu Beginn des Jahres 2017 war ein Gesetzesentwurf, der den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen verbessern sollte. Mit diesem Thema hatte sie vorab Wahlkampf gemacht. Abtreibungen sind in Brasilien nur im Fall von Vergewaltigung, Lebensgefahr der schwangeren Person oder Anenzephalie des Fötus legal möglich. Aber auch in diesen drei Ausnahmen ist der Eingriff nicht immer zugänglich, da Ärzt*innen ihn verweigern oder Krankenhäuser ihn nicht anbieten. Franco, die als Teenagerin selbst Mutter wurde und eine 19-jährige Tochter hinterlässt, kämpfte auf lokaler Ebene in Rio de Janeiro dafür, dass Schwangerschaftsabbrüche in diesen drei Fällen garantiert werden. Sie entwarf einen Gesetzesentwurf, mit dem Schwangere diesen hätten einklagen können. Als Lokalpolitikerin war dies das Umfangreichste, was sie in Rio de Janeiro umsetzen konnte.

Franco unterstützte die nationalen Kämpfe um die vollständige Legalisierung von Abtreibungen. In einem bislang unveröffentlichten Interview sagte sie gegenüber dem Missy Magazine im Juni 2017: „Dieser Gesetzesentwurf ist wichtig, weil Frauen sterben, insbesondere Schwarze Frauen. Es ist ein fundamentales Thema, da es um den grundlegenden Zugang zu Gesundheit und die Autonomie des weiblichen Körpers geht. Leider regieren heutzutage Männer ohne Verständnis dafür, was Frauen in ihrer großen Vielfalt in der Politik fordern. Deshalb ist die Gesundheitspolitik gemeinsam mit der Sicherheitspolitik und solidarischer Ökonomie eine Politik für Frauen. Denn sie sind für das Leben der Frauen wichtig, während sie für Männer häufig nur ein Gesprächsthema bleiben.“ Im Gespräch war Franco herzlich, aber distanziert. Dass sie eine Ausnahmepolitikerin war, zeigt auch der Anlass für das damalige Interview: Dieses bildete Grundlage für eine Abschlussarbeit und sollte nicht in der Presse erscheinen. Nicht jede*r Politiker*in nimmt sich für solche Vorhaben Zeit. Francos Büro war ein bunter Fleck in der kahlen Stadtratskammer Rio de Janeiros: Wie in einem autonomen Zentrum zierten bunte Sticker mit linken Botschaften die Tür zu ihrem Büro, im Warteraum lagen Flyer, die nicht nur ihr eigenes Wahlprogramm repräsentierten. Auch Francos Art, Politik zu machen, war besonders: Sie nutzte ihr Mandat kollektiv und engagierte eine große Diversität an Mitarbeiter*innen, u. a. trans Frauen.

Außerdem versuchte Franco, den Tag der lesbischen Sichtbarkeit in den offiziellen Kalender Rio de Janeiros einzubinden. Der Gesetzesentwurf wurde im August 2017 abgelehnt.

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Franco mit ihrer Partnerin. Eines der Hashtags: „Unsere Familien existieren.“

„Für uns Schwarze Frauen bedeutete Marielle vor allem Sieg. Die Statistiken sprechen immer gegen uns. Sie hat sie alle besiegt: Mutter mit 19, trotzdem absolvierte sie ihr Studium. Schwarz und trotzdem Politikerin. Frau und trotzdem Gewinnerin. Sie war der Beweis, dass es funktionieren kann, war unsere Stimmen in Räumen, aus denen wir ausgeschlossen sind. Für weiße Frauen war sie eine Brücke. Mari hat mit allen gesprochen, zugehört, vermittelt, um gemeinsam weiterzukommen. Genauso mit weißen Männern. Für den Feminismus im Allgemeinen war sie eine Hoffnung für alle, die täglich Leben verändern“, schreibt Aguiar über ihre verstorbene Freundin. Sie war eine Hoffnungsträgerin für alle, die sich von weißen, männlichen, heterosexuellen Politikern nicht repräsentiert fühlen, und all diejenigen, für die die in Rio de Janeiro herrschende Militärinvention eine Bedrohung darstellt. Auf den Demos im ganzen Land fragten die Teilnehmenden nach ihrem Tod: „Wer ermordete Marielle?“

Im Juni 2017, nach einem halben Jahr als Stadträtin Rio de Janeiros, fühlte sich Franco in Bezug auf ihren Aktivismus für Schwangerschaftsabbrüche nie zum Schweigen gedrängt: „Ich glaube, dass das Thema polemisch ist. Aber ich habe noch nie einen Versuch erlebt, bei dem ich ruhiggestellt werden sollte“, sagte sie gegenüber dem Missy Magazine. Nun wurde Franco für immer ruhiggestellt – aus bislang unbekannten Gründen. Brasilien verliert eine große Politikerin, für die Intersektionalität keine Imagepolitik, kein Lippenbekenntnis war. Sie hat an allen Ecken dafür gekämpft.