Von Juli Katz

Nell Zink, wir befinden uns in der brandenburgischen 11.100-Seelen-Stadt Bad Belzig. Diese wurde zuletzt in den Medien lobend erwähnt, weil in den Belziger Landschaftswiesen vom Aussterben bedrohte Großtrappen aufgepäppelt werden. Ein Grund für dich, hier zu wohnen?
Na ja, das Großtrappenprojekt ist deutschlandweit berühmt und kontrovers, weil es nicht so einfach ist, die Vögel in freier Wildbahn großzukriegen. Hier wachsen sie im eingezäunten Gehege auf und werden von Hand gefüttert, sodass sie am Schluss eher handzahm sind – aber sie vermehren sich und darum geht’s. Ich bin kein „social butterfly“, kannte niemanden und fragte mich, wo man wohnen kann, wenn man zwischen der Elbe und Berlin unterwegs sein will. Jetzt bin ich seit fünf Jahren hier. Die südliche Landschaft ist absolut faszinierend – wenn man Vögel sehen will, ist da richtig was los.

Nell Zink © Fred Filkorn

Über dein Interesse an Vögeln bist du zum Schreiben gekommen – und hast einen großen Fan gefunden: den Schriftsteller Jonathan Franzen.
Das stimmt. Als Naturschützerin habe ich damals allen möglichen Medien gemailt, um sie auf die Problematik von Flussregulierung hinzuweisen. Was wir z. B. in Deutschland unter einem Fluss verstehen, ist oft eine Kette von Stauseen, wo ein Wehr auf das andere folgt. Das hat mit Fließen nicht viel zu tun. Vögel sind ein guter Indikator für ein intaktes Ökosystem: Sie sind tagaktiv, relativ auffällig und mobil. Wenn die Bedingungen im Habitat gegeben sind, besiedeln sie recht schnell das Gebiet. Franzen habe ich über die Arbeit meines Freundes Martin Schneider-Jacoby informiert. Und er hat geantwortet: Aha, interessant, und übrigens schreiben Sie sehr, sehr gut.

Kam das Lob überraschend für dich?
Ich verstand mich nicht als verkannte Schriftstellerin, eher als ewig obskure unbekannte – und dann behauptet dieser König der US-amerikanischen Literaturszene das Gegenteil, bloß weil ich einen halbwegs gescheiten Brief schreibe? Das war wie ein existenzieller Schock, eine Standard-Midlifecrisis in Positiv. Anstatt sich damit zu arrangieren, die eigenen Hoffnungen nie zu erreichen, entdeckt man auf einmal: Wow, ich hätte mir viel mehr erhoffen dürfen. Mein Leben war bis dahin einfach nicht so verlaufen, dass ich Grund zum Selbstbewusstsein gehabt hätte.

Aber Franzen wollte dir das Gegenteil beweisen.
In meinen Twentysomethings habe ich zwar Fiction geschrieben, dummerweise aber alles weggeschmissen, weil ich dachte, dass es Mist ist. Den „Mauerläufer“ hielt ich für zu schlecht zum Veröffentlichen, weil ich keine zeitgenössische Literatur gelesen habe und mich mit meinen literarischen Lieblingen wie Franz Kafka, Robert Walser und Virginia Woolf verglichen habe – ein weitverbreiteter Fehler. Mir war nicht klar, dass ich überhaupt ein Niveau erreichen kann, mit dem man einen Verlag findet. Irgendwann habe ich darauf bestanden und sagte: Hey, so kannst du nicht mit mir umgehen, Mr. Franzen. Du kannst nicht sagen, ich wäre ein literarisches Genie, und mir viel Glück wünschen. Ich kenne niemanden, habe keine Ahnung und bin ungeschickt bis hilflos, wenn’s darum geht, mich einzuschleimen. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass ich nicht zu den Leuten gehöre, die spontan ernst genommen werden.

Den „Mauerläufer“ konntest du dann erst mal in einem kleinen Verlag veröffentlichen.
Als meine Mutter im Sterben lag, habe ich ihre Wohnung aufgeräumt und fand ein paar Ausdrucke einige meiner Geschichten – keine Ahnung, ob sie sie jemals gelesen hat. Aber ich fand sie richtig gut und extrem witzig. Ein Freund hatte noch Dateien davon auf dem PC, die ich Franzen geschickt habe. Der meinte: „Okay, Nell. Ich verlange von dir eines: Such alle Dateien zusammen, die es von dir gibt, und schick sie mir. Damit die aufbewahrt werden und ich sie archivieren kann.“

Und das hast du gemacht?
Ja, und Franzen fand sie gut – aber nicht kommerziell-gut, eher avantgardistisch. Deswegen wollte er in die kleinen Verlage – eben auch Dalkey Archive Press –, denen er sagen konnte: „Hallo, ich bin der große Jonathan Franzen, und wenn Sie das verlegen, würde ich dafür werben, dass es auch verkauft wird.“ Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass er da wegen seiner ästhetischen Aufsätze ziemlich verhasst war. Später saß ich bei einer Freundin in Tübingen, die Besuch von einem amerikanischen Freund hatte, der die Ehefrau des Dalkey-Typs kannte. Und vielleicht würde die sich an mich als Projekt von Franzen erinnern, meinte er. Weil es ein feministischer Verlag ist, fragte er: Geht’s da denn „um Frauen“?

Ging’s „um Frauen“?
Ich konnte nur antworten, dass ich eine Frau bin, aber es im Manuskript keinesfalls „um Frauen“ gehe. Dass ich aber eins hätte, in dem es um eine Frau gehe – den „Mauerläufer“. Darauf ist sie voll angesprungen; weil sie wusste, dass ich mit Franzen befreundet bin. Und als der Roman rauskam, hatte ich einen lukrativen Deal bei einem großen Verlag und war in aller Munde, das It-Girl in New York und das Mysterium Nell. Auf mich hatte das keinerlei Wirkung, weil ich hier in diesem Zimmer unter genau den gleichen Bedingungen mein Leben lebte und mir Geldsorgen machte, weil ich anfangs nur 300 Euro Anzahlung bekommen hatte. In den letzten Jahren hat sich mein Leben verlangsamt, was purer Luxus ist – wenn man Jahre hat, die einem so lange vorkommen wie zu Kindheitszeiten. Das fing 2011 an, als ich angefangen habe, mich ernsthaft um die Vögel zu kümmern.

Im „Mauerläufer“ geht’s um Vogelschutz – und die Ehe.
Die Partnersuche ist für Frauen im gebärfähigen Alter, wie ich sie kenne, immer wieder ein großes Fragezeichen – die Entscheidung der Reproduktion, ob und wie, unter welchen Bedingungen und mit wem. Wenn ökonomischer Druck da ist, wie im Falle Tiffanys im „Mauerläufer“, die sich als Sekretärin nicht viel leisten kann und einen Typ trifft, der ihr sofort den Hof macht und sie in die Schweiz mitnehmen will, wo sie weder arbeiten muss noch legal können wird – das kann man auch als Befreiungsschlag sehen, sich von ihm durchfüttern zu lassen. Die Gesellschaft ist bewusst so organisiert, dass diese kleinen Kernfamilien im Mittelpunkt stehen. Ist ja nicht so, als würde die Regierung sagen: Kommt aufs Standesamt und registriert eure Kommunen! Es geht darum, ob du verpartnert bist oder nicht. Tiffany heiratet aus Versehen und fängt erst später an, sich für den Mann zu interessieren. Auf ihre eigene Besonderheit verschwendet sie nicht viel Aufmerksamkeit – weil sie sich nicht für wertvoll hält. Es ist ein klassischer Bildungsroman, aber aus weiblicher Sicht, wo auch die Unterwerfung des Weiblichen direkt thematisiert wird.

Du hattest schon ziemlich unterschiedliche Jobs: Kellnerin, Übersetzerin, Modell für irgendwelche Zeicheninstitute …
Mit einem Abitur in Philosophie kann man nix machen. Ich wollte meinen Weg gehen und für mich war klar, dass ich Geld brauche. Problematischerweise hatte ich keine Skills, mit denen ich mehr als Mindestlohn verdienen konnte. Deswegen bin ich als Maurerin auf den Bau gegangen, weil das rentabler war als klassische Frauenberufe: 8 Dollar die Stunde, als der Mindestlohn bei 4,25 lag. Aber das war nicht die Lösung. Um mich davor zu retten, bin ich Sekretärin geworden, wo ich mich komplett untergeordnet habe. Ich hatte einfach meine Probleme und intellektuelle Leidenschaften, die mit Erfolg absolut nix zu tun hatten. Und nebenbei habe ich meinen Freunden zugeschaut, die in den Journalismus gegangen sind und auf einmal nicht mehr das schrieben, was sie wollten, sondern den Hausstil einer drittklassigen Zeitung kopiert haben. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich war einfach eins von Millionen Opfern des US-amerikanischen Bildungssystems.

Aber mit deinem Umzug nach Deutschland hat sich alles verändert?
In Deutschland ist es anders: Wenn man Talent und Interesse hat, kann man an die Uni gehen und jahrelang irgendwas Anspruchsvolles studieren. Das war mein Traum, aber das Geld war nicht da. Das ist schon obszön. Ich hatte keine besonders guten Noten, weil ich nicht punkten oder brillieren wollte – sondern lernen. Und um 2000 habe ich die Reißleine gezogen, als bei einer Freundin in ihrer Tübinger WG ein Zimmer frei wurde. In dem Moment sagte ich: Okay, ich gehe nach Deutschland, ich trete in den Streik. Da habe ich erst mal Übersetzungsaufträge gemacht und hatte endlich Zeit zu schreiben. Deutschland ist das Land der 20-Prozent-Stellen und solcher Fiktionen. Das ist der Himmel auf Erden.

Wie war’s, als du zum ersten Mal richtig viel Cash auf dem Konto hattest?
Am liebsten hätte ich eine Badewanne mit Goldstücken wie Dagobert Duck gehabt, um mich darin zu wälzen. Aber wie man Geld ausgibt, kriegt man von den Eltern antrainiert, und da merke ich, dass ich nicht wirklich aus der Mittelschicht komme. Wenn man Geld braucht, um damit eine Stresssituation zu lösen und sich zu sagen: Ich nehme mir jetzt ein Taxi – und dann nimmt man sich einfach dieses Scheiß-Taxi, ohne sich Gedanken darüber zu machen, das ist einfach toll! Aber ich habe Leute kennengelernt, die mehr Geld haben, und deren Leben dadurch sofort teurer wird, weil sie wohlhabende Eltern hatten. Die denken: Okay, jetzt bau ich mir ein Haus aus Stein und fahre Mercedes S-Klasse, genau wie Papa, der Herzchirurg war. Und endlich bringt es dieser Sohn als Schriftsteller doch noch zu was und lebt wie der Papa. Das Haus meiner Eltern war voll mit Büchern – aber viel mehr gab’s nicht. Früher war es eine Qual, Geld anzuschaffen, und jetzt kann ich was auf die hohe Kante legen, sodass ich mir nicht groß Sorgen machen muss. Ein komplett anderes Lebensgefühl.

Im Februar erschien dein neuer Roman „Nikotin“ auf Deutsch, in dem die 23-jährige Penny nach dem Tod ihres Vaters dessen verfallenes Elternhaus renovieren will – aber stattdessen ein besetztes Haus vorfindet, dessen Insassen sich einem verschrieben haben: dem Rauchen.
Es geht um zwei Modelle, wie man die Welt verändern könnte: einerseits das Aussteigen und Vorbild sein, andererseits die Möglichkeit, die die Figur Matt bevorzugt. Er ist Realist und sagt, weil die Leute nicht mehr in der Lage sind, Müll zu trennen, müssen wir ihn so klein kriegen wie möglich und nicht ins Meer kippen, sondern auf ewig irgendwo an Land verstauen und basta. Das klingt so schrecklich, dass er für ein Arschloch gehalten wird, und natürlich hat er seine Persönlichkeitsissues … Aber das war bewusst gewählt, weil es in Deutschland vielleicht sogar schlechter als in den USA ist: Es wird nicht kontrolliert, wo was abgeladen wird. Wir haben auf dem Papier ein wunderschönes, sauberes Land, aber in der Realität?

Das „Nikotin“, also das Haus, um das es geht, steht in Jersey City.
Das ist ein spannendes Städtchen, weil es viele auffällige Armenviertel gibt, die von Weißen besiedelt sind und wo niemand hin will. Da gibt es nichts, was man durch Renovierung aufwerten könnte. Und da steht das schöne, große Haus von Pennys Vater, umgeben von Häusern, die nicht so schön sind. Im amerikanischen Immobiliengeschäft sagt man location, location, location – der Name deines Viertels ist das, was zählt, und der Wert deines Hauses der Wert der Lage. Als ich dort in den Neunzigern gelebt habe, war es absolut uncool, obwohl man in fünf Minuten Tunnelfahrt am World Trade Center sein konnte.

Und die Leute, die im „Nikotin“ zusammenwohnen?
Da geht es um die freie Liebe – und die Charaktere haben andere Sorgen und Gründe, sich nicht für Partnerschaften zu interessieren. Die eine liebt nur ihren Exfreund, der anderweitig verheiratet ist, die andere ist Lesbe und im Allgemeinen nicht so gut auf die Menschheit zu sprechen, und Rob, Pennys Liebesobjekt, hat sich die Sache gleich ganz abgeschminkt – aus persönlichen Beweggründen, die man erst langsam erfährt. Das sind Leute, die Sicherheit nicht in Partnerschaften suchen, sondern in der Gemeinschaft; was ziemlich verbreitet ist in der alternativen Szene.

Nell Zink „Nikotin“
Rowohlt, 400 S., 22,95 Euro

Findest du, dass Literatur politisch sein sollte?
Es ist einfach viel spannender! Alle interessanten Menschen, die ich kenne, sind politisch bewegt. Die, die L’art pour l’art machen, sind meistens unvorstellbar verkopft. Wenn es bei denen politisch wird, dann eher aus einer bewusst naiven Haltung: „Ich nehme jetzt Elemente aus dieser Kultur, mit der ich gar nix zu tun habe, und diesem einen Künstler, den ich nicht kenne, und mache daraus eine imaginäre Protestbewegung.“ Da schlafe ich schon ein. Es muss ja nicht der neueste Tratsch über Trump sein, aber wenn man sich für Veränderung und Verbesserung der Gesellschaft interessiert, ist man bei der Politik.

Überall liest man, dass du Zynikerin bist.
Wenn man sich für die Wahrheit und nicht für Ideologien interessiert, klingt man automatisch zynisch. Alle wissen z. B., dass wir die Kurve nicht kriegen und die Klimaerwärmung auf uns zukommt. In der Szene ist es normal zu sagen: „Wir schaffen das! Wir können die Klimaerwärmung auf zwei Grad halten!“ Aber nein, können wir nicht. Die Wirklichkeit klingt anders als Schlachtrufe. Man will halt die Welt so beschreiben, wie sie ist – da klingt man vielleicht zynisch. Aber viele Sachen sind besser als ihr Ruf.